Abweichendes Verhalten/Delinquenz Der Begriff des abweichenden Verhaltens (Devianz) bezeichnet Verhaltensoptionen, die alternativ zu den allgemeinen Kultur-, Norm-, oder Wertevorstellungen bestehen. Insofern ist er ein Sammelbegriff für die Innovation auf der einen und Abnormität, Delinquenz und Kriminalität auf der anderen Seite. Abweichendes Verhalten lässt sich nur in Bezug auf ein Normalverhalten, eine Verhaltenserwartung oder festgeschriebene Verhaltensmuster erklären. Verhaltenserwartungen sind immer in einen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext eingebunden und insofern historisch und geographisch variabel. Verhalten beschränkt sich nicht auf Handlungen sondern schließt auch das äußere Erscheinungsbild, die Meinungsäußerung und die Gesamtheit aller wahrnehmbaren Äußerungen einer Person oder einer Gruppe ein. Verhalten unterliegt der subjektiven Reflektion durch den Gegenüber. In jeder Gesellschaft existieren feste Vorstellungen und Regeln, wie sich der Einzelne in bestimmten Situationen verhalten sollte. Diese sozial konstruierten Verhaltenserwartungen bestimmen, was als normal und was als Abweichung gilt. Da abweichendes Verhalten von diesen vorgegebenen oder intendierten Lösungen abweicht, bildet es die Grundlage dafür, neue Verhaltensmuster zu etablieren. Dabei löst es jedoch häufig Wiederstand aus, da die als normal definierte Ordnung gewöhnlich als naturgegeben angenommen wird und sich damit der kritischen Reflexion entzieht. Abweichendes Verhalten ist ein soziales Konstrukt, das die soziale Ordnung aufrechterhält.
Die Festlegung, was Abweichung ist, kann über statistische Verteilungsangaben, den normativen Kern des kodifizierten Rechts, allgemeine Moral und Wertevorstellungen oder durch die Definitionsmacht von Institutionen erfolgen. Weiterhin bildet dieses Verhalten nach h. M. eine Vorstufe zur Kriminalität, da ein nicht-konformes Individuum mit höherer Wahrscheinlichkeit Straftaten begeht als ein gesellschaftlich angepasstes. Die klassische kriminologische Auslegung des abweichenden Verhaltens bezeichnet diese Vorformen der Kriminalität als Prädelinquenz oder Dissozialität. Abhängig von den geltenden Normvorstellungen wurden in der Vergangenheit - und werden noch heute - Phänomene wie
Alkohol- und Drogenkonsum, Arbeits- und Wohnungslosigkeit, Glücksspiel,
Prostitution, Sektenwesen oder Homosexualität den gesellschaftlichen oder staatlichen Regulierungsmechanismen überlassen und der rechtlichen Kontrolle unterworfen. Insbesondere am Beispiel der Homosexualität wird der Wandel der Definition von Abweichung und der Kriminalisierung von Verhalten deutlich. Während die gesellschaftliche Regulierung von Abweichung sich vorrangig des Ausschlusses des betroffenen Individuums oder des sozialen Druckes bedient, steht dem Staat neben dem Strafrecht eine breite Palette von Instrumenten der sozialen Kontrolle zur Verfügung. In erster Linie handelt es sich hierbei um Institutionen wie die Polizei oder die Jugendämter.
Mit der Übernahme abweichender Handlungen in das Strafrecht verbindet insbesondere die kritische Kriminologie eine staatliche Kriminalisierung. Andererseits ist abweichendes Verhalten für die Weiterentwicklung einer Gesellschaft zwingend notwendig. Wissenschaftliche Entdeckungen, künstlerische und soziale Innovationen wären bei einer absoluten Regelkonformität nicht möglich. Die Definition, ob eine Innovation sozialschädlich oder kriminell ist, hängt vom Menschenbild, der gesellschaftspolitischen Bewertung und dem aktuellen normativen Konsens ab.
Die Delinquenz als eine spezifische Form des abweichenden Verhaltens lässt sich nicht trennscharf vom Begriff der Kriminalität abgrenzen. Im deutschsprachigen Raum wird in der wissenschaftlichen Diskussion der Begriff Delinquenz für strafrechtlich einschlägige Delikte verwendet, deren Ahndung nach § 19 StGB nicht möglich ist, oder denen die spezifische moralische Vorwerfbarkeit fehlt. Delinquenz ist demnach eine Form des abweichenden Verhaltens, die Verstöße von Kindern (bis 14 J.) gegen strafrechtliche
Normen bezeichnet. Darüber hinaus wird sie in der kriminologischen Diskussion auch für die Straffälligkeit von Jugendlichen (bis 18 J.) und Heranwachsenden (bis 21 J.) genutzt. Die Bezeichnung der Kinderkriminalität als
Kinderdelinquenz umgeht das Stigma der moralischen Verurteilung und erlaubt ein objektiveres Herangehen an den Untersuchungsgegenstand. Gerade bei Kindern und Jugendlichen spielt die Frage nach der Verantwortung für die Tat eine entscheidende Rolle. Dies spiegelt sich auch in der Konzeption des JGG wieder, da dieses insbesondere in der Adoleszenzphase auf die Einsichtsfähigkeit und moralische Reife abzielt. Subjektive Verantwortlichkeit ist das Resultat einer entsprechenden
Sozialisation. Demnach kann die Kriminalität dieser Altersgruppen nach h. M. nicht mit der Kriminalität der Erwachsenen gleichgesetzt werden. Andererseits öffnet sich durch diese Definition der Delinquenz als Erziehungsmangel ein weites Feld von Kontroll- und Disziplinartechniken. Präventive Eingriffe im Rahmen der Erziehung können so bereits bei nicht strafrechtlich relevanten Auffälligkeiten gerechtfertigt werden. Im anglo-amerikanischen und französischsprachigen Sprachraum werden die Begriffe delinquency bzw. delinquance sowohl für abweichendes Verhalten im Sinne der Nichtbeachtung von
Normen, als auch für Gesetzesverstöße durch Kinder und Jugendliche verwendet. Im Gegensatz zum Delinquenzbegriff im deutschsprachigen Raum werden auch Verhaltensweisen, die die gesellschaftliche Ordnung stören oder auf eine Verwahrlosung hindeuten, mit eingeschlossen. Delinquenz in diesem Sinne umfasst deshalb neben strafrechtlichen Verstößen von Kindern und Jugendlichen auch Handlungen, die nur für diese Altersgruppe verboten oder nach behördlich fixierten Erziehungsvorstellungen unerwünscht sind und offiziell sanktioniert werden können, z. B. Streunen,
Alkoholkonsum, Schulschwänzen etc. Im deutschsprachigen Raum werden die Bereiche der Verwahrlosung und des Verstoßes gegen nicht- strafrechtliche
Normen nicht unter dem Delinquenzbegriff erfasst, sondern vielmehr dem
Jugendschutz und
Jugendrecht zugeordnet.
Literatur:
Dollinger, B. 2006, Einführung in Theorien abweichenden Verhaltens : Perspektiven, Erklärungen und Interventionen, Beltz.
Göppinger, H. 2008, Kriminologie, 6. Aufl. Beck.
Reinecke, J. 2007, Delinquenz im Jugendalter: Erkenntnisse einer Münsteraner Längsschnittstudie, Waxmann.
Schlagwörter: Devianz, Konformität, Disziplinierung, Anpassung, Erziehung, Normalität
Marcel Häßler