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Arbeitslosigkeit und Kriminalität
 
Die Überlegung, dass die Erwerbslosigkeit eines Individuums mit dessen Normtreue verbunden sei, ist vergleichsweise alt. Bereits der englische Gefängnisreformer John Howard sah im fehlenden persönlichen Fleiß die Gefahr der Delinquenz. Sein Ausspruch „make them diligent and they will be honest“ (1777) gab die durchaus verbreitete Ansicht wieder, nach der ein Mensch, der in Armut und ohne Arbeit lebt, eine höhere Neigung aufweist, delinquent zu werden als der arbeitende Arme. Tatsächlich gerieten mit dem Entstehen der modernen Gesellschaften die Armen in den Blick einer disziplinierenden Obrigkeit und hier vor allem solche Bettler und Vagabunden, die als arbeitsfähig galten. Zusammen mit anderen Personengruppen, wie beispielsweise Prostituierten und Dieben, wurden sie in die entstehenden Arbeitshäuser gesperrt, um sie dort zur Arbeit zu erziehen. Dieses Vorgehen gegen die arbeitslosen Armen resultierte aus der Annahme, dass sie potenzielle Delinquenten seien. Ihnen wurde eine mangelnde Disziplin unterstellt, die gleichermaßen die Arbeitslosigkeit wie die Normlosigkeit begünstigte.

Doch bereits in frühen kriminologischen Arbeiten wandte sich der Blick von der inneren Einstellung der Armen weg und ihrer sozioökonomischen Situation zu. Die Arbeiten von Russel (1847), Georg von Mayr (1867) und Guehlet (1869) beispielsweise untersuchten den Einfluss der ökonomischen Lage auf die Kriminalitätsbelastung; so beschrieb die Studie von v. Mayr einen Zusammenhang zwischen dem Preis von Grundnahrungsmitteln (Getreidepreis) und der Eigentumskriminalität: Mit einem Ansteigen des Getreidepreises wächst die materielle Not der Armen und damit nimmt die Kriminalitätsrate zu.
Obwohl mit dem Ausbau des modernen Sozialstaats die Überzeugungskraft einer mit der Not begründeten Eigentumskriminalität abnimmt, wurde der Perspektivwechsel, der den Arme weniger als Gefahr denn als Opfer einer kriminogenen sozioökonomischen Situation sieht, weitgehend beibehalten: Es war Merton, der 1958 mit seiner Fortführung der Durkheimschen Anomietheorie, den vermuteten Zusammenhang von Armut und Kriminalität in eine bis heute bedeutsame theoretische Form brachte. Allerdings ist Delinquenz bei Merton nur eine der möglichen Reaktionen auf Armut und die Anpassung der materiellen Lebensziele an die jeweiligen Möglichkeiten ist eine weitere.

Wenn Armut kriminogen wirkte, müsste dieser Zusammenhang bei den Arbeitslosen am stärksten ausgeprägt sein, da hier die größte materielle Not angenommen werden kann. Jedoch führten die Versuche einer empirischen Überprüfung des behaupteten Zusammenhangs von Arbeitslosigkeit und Kriminalität nicht zu dessen Bestätigung. Zwar weisen die Arbeitslosen eine überproportionale Belastung bei der amtlich registrierten Kriminalität auf, doch wird bei weitem nicht jeder Arbeitslose kriminell. Ganz offensichtlich ist Arbeitslosigkeit allein kein ausreichender Grund für delinquentes Verhalten. Welche weiteren Bedingungen hinzutreten müssen, damit delinquentes Verhalten erwartbar wird, ist jedoch nach wie vor unbestimmt. Dennoch werden die folgenden Merkmale arbeitloser Delinquenten genannt: Eine überdurchschnittliche Belastung durch Vorstrafen sowie so genannte Sozialisationsdefizite wie das Aufwachsen in unvollständigen Familien oder in Heimen, und fehlende schulische wie berufliche Qualifikationen, gleichzeitig ist ihre bisherige Erwerbsbiografie durch abgebrochene Lehren und/oder häufige Wechsel der Arbeitsstelle gekennzeichnet.

Allerdings sprechen verschiedene Dunkelfelduntersuchungen dafür, dass es zumindest im Bereich der Jugendkriminalität gerade nicht die Arbeitslosen sind, die die höchste Delinquenzrate aufweisen. Viel mehr wird dieser Wert in einer Bremer Längsschnittstudie ausgerechnet von der Gruppe Jugendlicher erreicht, die ihre berufliche Qualifizierung mit dem erfolgreichen Abschluss einer Lehre vorantreiben, jedoch nach Feierabend und am Wochenende ein delinquentes Doppelleben führen. Diese „Freizeitkriminalität“ bleibt den Strafverfolgungsbehörden weitgehend verborgen, während Arbeitslose im Hellfeld deutlich überpräsentiert sind. Wird eine Kriminalitätsbelastung dieser Gruppe auf dem Niveau berücksichtigt, das nach der Dunkelfeldforschung anzunehmen ist, wird deutlich das Arbeitslose ein größeres Risiko haben, kriminalisiert zu werden. Dieser Selektionsprozess der Strafverfolgung beginnt allem Anschein nach sehr früh, da bereits Kinder, die beispielsweise in Notunterkünften leben, Kontakte mit der Jugendfürsorge haben oder eine Sonderschule besuchen, eher polizeibekannt werden als Kinder, die gesellschaftlich stärker integriert sind und sich im späteren Leben eher durch beruflichen Erfolg auszeichnen.

Weniger eindeutig sind die Befunde zu der Sanktionsneigung der Gerichte: Zwar wird einem arbeitslosen Angeklagten in der Regel eine ungünstigere Sozialprognose als einem beschäftigten Angeklagten gestellt, was zu einem höheren Strafmaß führt. Jedoch lassen sich auch Belege dafür finden, dass zumindest bei jugendlichen Angeklagten bereits das Bemühen um eine Erwerbstätigkeit die Sozialprognose positiv beeinflusst und damit das Strafmaß reduzieren kann.

Literatur:
- Lamnek, Siegfried. 1981. Soziale Randständigkeit und registrierte Jugendkriminalität. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. 64. Jg. Heft 1/2, 1-14.
- Prein, Gerald und Lydia Seus. 1999. „Müßiggang ist aller Laster Anfang?“ – Beziehungen zwischen Erwerbslosigkeit und Delinquenz bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Soziale Probleme. 10. Jg. Heft 1, 43-73.
- Schumann, Karl F. 2007. Berufsbildung, Arbeit und Delinquenz: empirische Erkenntnisse und praktische Folgerungen aus einer Bremer Längsschnittstudie. In: Axel Dessecker (Hrsg.). Jugendarbeitslosigkeit und Kriminalität. 2. Auflage. Wiesbaden: Kriminologische Zentralstelle, 43-68.


Ingo Techmeier
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