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Familie
 
1) Beitrag von Ralf Quinten
2) Beitrag von Gerald Hochwallner

1) Die Familie stellt eine sozio-biologische Einheit dar, die durch enge Verwandtschaftsbeziehungen, vor allem das Eltern-Kind-Verhältnis gekennzeichnet ist. Als soziales System, welches das Hineinwachsen der Kinder in die Gesellschaft gewährleistet, bündelt die Familie vielerlei Funktionen. Neben der biologischen Funktion der Reproduktion gesellschaftlicher Mitglieder sind es vor allem die sozialen Funktionen, die kriminologisch von Belang sind.

Familie wird als erste Sozialisationsinstanz betrachtet, da hier die emotionale und motivationale Grundorientierung im Hinblick auf gesellschaftlich akzeptierte oder abweichende Werte und Normen geprägt wird. Im Gegensatz zum instinktgesteuerten Tier wächst der Mensch erst durch umfangreiche Lernprozesse langsam in soziale Gruppen hinein. Dabei bildet die Familie nicht nur erstes Identifikationsobjekt des Kindes, sondern auch die Grundlage zu allen weiteren Identifikationen und damit zur Bildung eines Identitätsbewusstsein generell. Aus kriminologischer Sicht ist bereits die Prägungsphase der ersten Lebensmonate relevant. Die Untersuchungen an Heimkindern durch Spitz zeigten, dass bereits in der Kleinkindphase notwendige emotionale Bindung und Geborgenheit erforderlich sind, um später echte menschliche Beziehungen aufbauen zu können.
Im weiteren Verlauf der Sozialisation eines Kindes vereinigt Familie nun unterschiedliche Funktionen. Die Vermittlung sozialer, religiöser und politischer Wertvorstellungen, sowie rechtlicher und nominaler Verbote bezeichnet Schwindt als Normen-Transferfunktion. Damit einher geht eine weitere Funktion, die gesellschaftliche Platzierung. Hierbei machen Eltern ihre Kinder mit der eigenen sozialen Rolle bekannt, indem sie sie in bestimmte Kreise und Institutionen einführen (z.B. Kirche, Sportverein usw.).
Neben den gesellschaftlichen Ge- und Verboten gehört auch die Vermittlung sozialer Fähigkeiten, wie Selbstbeherrschung bzw. Frustrationstoleranz, Bedürfnisaufschub, Arbeitsdisziplin und Empathie zu den Hauptaufgaben der Familie. Entscheidend für die Internalisierung dieser Werte und Fähigkeiten dürfte dabei das Vorleben solcher Verhaltensmuster durch die Eltern sein. Durch Nachahmung bzw. Identifikation mit den Eltern in ihrer Vorbildfunktion werden Kinder animiert deren Verhaltensweisen zu übernehmen. Gerade in den ersten Lebensjahren dient das elterliche Verhalten als alleiniges Vorbild. Nach Tausch/Tausch wird durch dieses Wahrnehmungslernen neben prosozialem Verhalten auch unsoziales Verhalten mitbestimmt und geprägt.
Die erwähnten sozialen Fähigkeiten gelten nach Schwind bei Straftätern als relativ wenig ausgeprägt. Nach seinen aufgezeigten Studienergebnissen werden auch bestimmte Erziehungsstile mit einer größeren Wahrscheinlichkeit für delinquentes Verhalten in Zusammenhang gebracht. So steigern gleichgültige, autoritäre sowie inkonsistente Erziehungsweisen das Gefährdungspotential für kriminelle Handlungen.
Besondere Probleme können sich aus den verschiedensten Formen der Gewalterfahrungen in der Familie ergeben. Nach dem Forschungsbericht des KFN aus dem Jahre 2007 zum Thema "Kreislauf der Gewalt" scheint die Anwendung und Beobachtung von Gewalt in der Erziehung einen deutlich gewaltsteigernden Effekt auf die Kinder und Jugendlichen zu haben. Gewalt kann hier als Konfliktlösungsmöglichkeit im Rahmen der Vorbildwirkung übernommen und als legitimes Mittel verinnerlicht werden.

Eine weitere entscheidende Funktion der Familie ist die soziale Kontrolle, die über die Kinder ausgeübt wird. Dabei handelt es sich zum einen um die äußere soziale Kontrolle durch Aufsicht oder Handlungskontrolle, zum anderen um die Entwicklung einer inneren Kontrolle im Sinne der Entwicklung eines Gewissens oder Schuldbewusstsein. Während Aufsicht kriminelle Gelegenheiten minimiert, dient die Entwicklung eines Gewissens der späteren Selbstkontrolle.
Reckless und Reis benennen dies in ihrer, zu den Kontrolltheorien zählenden Halttheorie den inneren Halt, also die Fähigkeit kriminellen Versuchungen zu widerstehen. Sie stellen damit Versagen der Familie als wichtigste Sozialisationsinstanz ins Zentrum ihrer Betrachtungen. Entscheidend für nichtdelinquentes Verhalten ist danach u.a. ein stabiles Selbstkonzept und Selbstkontrolle, welches früh im Leben (bis zu einem Alter von 8 bis 10 Jahren) erworben wird und ist von da an stabil ist.
Dazu gibt es allerdings kritisch anzumerken, dass zahlreiche Individuen trotz Fehlens konventioneller Bindungen nicht straffällig werden. Auch kann sich das Verhalten von Personen mit vergleichbarem sozialen Umfeld (z.B. Geschwister) ganz unterschiedlich entwickeln.

In jüngerer Zeit bemerken Familiensoziologen wie Hill/Kopp einen zunehmenden Funktionsverlust der Familie bzw. einer Funktionsverlagerung durch demographische Veränderungen und institutionellen und kulturellen Wandel. Die typisch bürgerliche Familie steht offensichtlich seit den 1960er Jahren in Konkurrenz mit zahlreichen anderen alternativen Lebensformen.
Die demographischen Veränderungen werden durch den Mikrozensus 2006 bestätigt. Danach sinkt die Zahl der "Normal"- Familien (Eltern-Kind-Gemeinschaft mit mindestens einem Kind unter 18 Jahren im Haushalt) stetig, während die Zahl alternativer Familienformen (Alleinerziehende und Lebensgemeinschaften mit Kindern) kontinuierlich steigt. Allein in den Jahren 1996 bis 2006 wuchs die Zahl alternativer Familien um 30% auf 2,3 Millionen, während die Zahl traditioneller Familien um 16% auf 6,5 Millionen sank. Dennoch überwiegt die traditionelle Familie mit 74% der Familienformen immer noch.
Allerdings betreuen immer weniger Familien immer weniger Kinder. Die Ein-Kind-Familie stellt die mittlerweile die häufigste Form der Familien mit Kindern dar.
Ausschlaggebend dürfte ein grundlegender sozialer Wandel sein, der Familien in besonderen Maße trifft. Peukert stellt hierzu fest, dass Individualisierungsprozesse und strukturelle Differenzierungsprozesse eine Vielzahl an Auswahl- und Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen. Diese Selbstentfaltungswerte und Planung eines individuellen Lebensplan beeinflussen Familienplanung und -gründung und verringern gleichzeitig die Zeit des Familienumgangs.
In diesem Zusammenhang dieser strukturellen Veränderungen wird häufig diskutiert, dass jugendliche Straftäter aus einem sog. broken home, also gestörten oder unvollständige Familien stammen.
Als Faktoren dieser Erscheinung werden häufig zerrüttete Verhältnisse, Gewalterfahrungen innerhalb der Familie, Fehlen gleichgeschlechtlicher Vorbilder bzw. Unvollständigkeit der Familie oder beengte Wohnverhältnisse genannt. Für den Jugendforscher Hurrelmann bildet kriminelles Verhalten Jugendlicher den Endpunkt einer langen Kette von Belastungen durch ungünstige Sozialisationsbedingungen in der Familie und er benennt dies als Symptom für eklatant defizitäre soziale Ressourcen (z.B. emotionale Gleichgültigkeit, Gewalterfahrungen usw.), die meist mit schwachen personalen Ressourcen (z.B. Selbstkontrolle) einhergehen. Unvollständigkeit der Familie an sich scheint hier nicht kriminalitätsfördernd zu sein.

Folgt man der These von der Normalität und Ubiquität von Delinquenz, so dürfte Familie einen entscheidenden Kanalisationsfaktor für das Auftreten von Kriminalität darstellen.
Aufgrund von Befunden der Dunkelfeldforschung zweifelt Fritz Sack allerdings an einer grundlegenden Kausalbeziehung zwischen familiären Störungen und Kriminalitätserzeugung. Nach ihm begünstigt bzw. verhindert Familie nicht nur Kriminalität im Sinne des Verhaltens, sondern sie begünstigt und verhindert sie auch im Sinne ihrer Sichtbarkeit und offiziellen Relevanz. Nicht die Sozialisations-, sondern die Platzierungsfunktion der Familie im Kontext der Sozialstruktur gewinnt damit eine stärkere Betonung.
Mit zunehmenden Alter werden die Einflüsse anderer Sozialisationsinstanzen, wie Kindergarten, Schule, Peer-Group oder Massenmedien immer stärker. Die Erziehung und Kontrolle verlagert sich von der Familie weg. Gerade die bereits erwähnten Modernisierungstendenzen verstärken diesen Effekt.
Dennoch beruht die Ablösung von der Familie in Auseinandersetzung mit neuen Sozialisationsinstanzen immer auf bereits grundlegenden Sozialverhalten, so dass die Sozialisation durch die Familie richtungsweisend für das gesamte Leben bleibt.

Schlüsselbegriffe: Wertevermittlung, Funktionsverlust, Sozialisationsinstanz, Platzierungsfunktion, soziale Kontrolle

Literatur:
- Baier, D., Pfeiffer, C. 2007: Gewalttätigkeit bei deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen: Befunde der Schülerbefragung 2005 und Folgerungen für die Prävention. KFN-Forschungsbericht 100. http://www.kfn.de/versions/kfn/assets/fb100.pdf , Stand 28.02.08
- Destatis 2007: Pressekonferenz "Familien in Deutschland-Ergebnisse des Mikrozensus 2006" in http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pk/2007/Mikrozensus/statement__praes,property=file.pdf , Stand 28.02.08
- Hill P., Kopp J. 2002: Familiensoziologie. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden
- Hurrelmann, K. 2005: Lebensphase Jugend. 8. Aufl., Juventa Verlag, Weinheim, München
- Peukert, R. 2002: Familienformen im sozialen Wandel. Leske+Budrich, Opladen
- Schwind, H.D 2008: Kriminologie. 18. völlig neubearb. und erw. Auflage. Kriminalistik Verlag, Heidelberg

Ralf Quinten



2) Im soziologischen Sinn ist eine Familie (lat. familia „Hausgemeinschaft) eine durch Heirat und/oder Abstammung begründete Lebensgemeinschaft, im westlichen Kulturkreis meist aus Kindern bestehend, gelegentlich durch im gleichen Haushalt wohnende Verwandte erweitert. Die soziale Entwicklung eines Menschen erfolgt nach Parson als eine Art Laufbahn, in der sich das Individuum in vorhandene Rollen integriert und an deren Ende der Mensch als mehr oder weniger gut sozialisiert in die Gesellschaft entlassen wird. Beeinflusst wird diese Entwicklung durch Sozialisations- bzw. Erziehungsinstanzen, wie zum Beispiel Schule, Ausbildungsstätten und auch die Familie oder die „peers“ (Gleichaltrigen). Die Familie galt bis vor ungefähr 30 Jahren für Ihre Mitglieder und die Entwicklung des Einzelnen, vor allem der Kinder, als wichtiger Schutzraum, in den sich der Staat nicht einzumischen habe. Zweifellos hatte und hat für das Aufwachsen, die (psychische) Entwicklung und die gelungene Sozialisation des Einzelnen eine gut funktionierende Familie eine zentrale Bedeutung. Die traditionelle Form der Familie, also zwei verschiedengeschlechtliche Eheleute und ihre unselbstständigen Kinder, verlor in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung, während alternative Formen der Familie zunehmend das gesellschaftliche Bild prägen. Die Veränderung der Familienstruktur begann bereits im Zeitalter der Industrialisierung mit der Auflösung der Großfamilie. Bis in die 1970er Jahre dominierte die Kleinfamilie, welche danach durch das Aufkommen von alternativen Familienformen (Lebensgemeinschaften, Alleinerziehende Mütter oder Väter) an Bedeutung verlor.
In den ersten sechs Lebensjahren spielt die Familie, d.h. die Einflüsse von Mutter, Vater und Geschwister, die dominierende Rolle in der kindlichen Sozialisation. Daraus resultiert, dass in dieser Phase nicht nur der Charakter und die Hauptmotivationen eines Individuums gebildet werden, sonder auch Intelligenz, Begabung und Selbstkontrolle. Die ersten Lebensjahre bestimmen die spätere soziale Entwicklung eines Menschen, wobei nachträgliche „Reparaturen“ eher nur im Ausnahmefall erfolgreich sind.
Die elterliche Erziehung soll auf die Übertragung von sozial gebilligten Werten und auf Vermeidung der Aneignung von sozial schädlichem Verhalten gerichtet sein. Zu Unterscheiden ist zwischen drei Funktionen der Erziehung: Die Normentransferfunktion dient der Übermittlung der allgemein geltenden Regeln für soziales Handeln. Unterstützt wird dies durch die Vorbildfunktion der Eltern, die ein bestimmtes Verhaltensmuster vorleben, welches im Zuge der Nachahmung vom Kind übernommen wird. Die dritte Funktion ist die sog. Platzierungsfunktion. Dabei wird das Kind in das gesellschaftliche und soziale Umfeld der Eltern eingeführt. In der Familie können, sofern diese existent ist und funktioniert, soziale Fähigkeiten eingeübt werden. Dazu gehören Selbstkontrolle. Durchhaltevermögen, Anstrengungsbereitschaft, Ordnung, Gehorsam und Respekt, also Verhaltensweisen, die bei Straftätern meist wenig ausgeprägt sind. Neben den Eltern spielen auch die Geschwister eine wichtige Rolle in der Sozialisierung eines Kindes. Unter ihrem Einfluss lernt ein Kind schon in frühen Lebensjahren z.B. Konflikte auszutragen und sich ein- bzw. unterzuordnen. Dem Einzelkind hingegen fehlt es an solchen Übungsmöglichkeiten.
Kriminologisch bedeutsam ist die Betrachtung jener familiären Verhältnisse, unter denen Straffällige und Nichtstraffällige aufgewachsen sind. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Familienstruktur und dem elterlichen Erziehungsverhalten gewidmet. Eine vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen im Jahre 2005 durchgeführte Schülerbefragung ergab, dass autoritär erziehende Eltern die Kontrolle des Kindes überbetonen und die Zuwendung eher vernachlässigen. Permissiv (nachgiebig, wenig kontrollierend) erziehende Eltern setzen auf Zuwendung und vernachlässigen die Kontrolle. Die unbeteiligten Eltern kümmern sich weder um die Zuwendung, noch um die Kontrolle. Laut dieser Studie sind besonders die beiden letztgenannten Erziehungsstile problematisch: Jeder fünfte permissiv erzogene Jugendliche hat in den letzten zwölf Monaten mindestens eine Gewalttat begangen; bei den unbeteiligt erzogenen Jugendlichen ist es sogar jeder vierte (autoritativ: jeder achte) (Baier u.a. 2006). Für eine soziale Entwicklung ist aber nicht nur der familiäre Erziehungsstil maßgeblich, sondern die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen, in die das Familienleben eingebettet ist. In diesem Zusammenhang wird von der „Multiproblemfamilie“ gesprochen: Familien, bei denen mehrere soziale und gesellschaftliche Probleme (z.B. Armut, beengte Wohnverhältnisse, Randständigkeit, etc.) gleichzeitig zusammen treffen und sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken.
Verhaltensauffällige Kinder lösen durch Aufmerksamkeitsstörungen, Hyperaktivität oder ähnlichen Verhaltensweisen bei ihren Eltern Frustration und auch Aggressionen aus, was sich wiederum in einem inkonsequenten oder übermäßig harten Erziehungsstil niederschlägt. Die Folge kann eine Stabilisierung des unerwünschten Verhaltens sein. Alle angeführten Risikofaktoren finden sich jedoch, wenn überhaupt, nur bei Mehrfach- oder Intensivtätern und sie können nicht zur Erklärung von vorübergehender Jugenddelinquenz herangezogen werden.

Literatur:

- Baier, D., Rabold,S., Lüdders,L. und Pfeiffer,C. (2006), Schülerbefragung 2005: Gewalterfahrungen, Schulschwänzen und Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen. Hannover: KFN (www.kfn.de/Publikationen/Materialien_fuer_die_Praxis.htm )


Gerald Hochwallner
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