A | B | C | D | E | F | G | H | I | J | K | L | M | N | O | P | Q | R | S | T | U | V | W | X | Y | Z | Alle |
Kriminalitätsmessung (einschl. Statistiken) und Kriminalitätsvergleich
 
Die Idee, "Kriminalität" als Menge der während eines bestimmten Zeitraums in einer bestimmten Gesellschaft offiziell bekanntgewordenen Straftaten in irgendeiner Form zu "messen", taucht in der Geschichte der Menschheit nicht zufällig auf. Sie ist vielmehr die fast zwangsläufige Folge der Herausbildung des modernen und auf Zentralisierung ausgerichteten bürokratischen Staates, der die Staatswohlfahrt als aktiven Planungs-, Gestaltungs- und Beherrschungsprozeß begreift und deshalb auch sowohl umfassende und umgreifende als auch auf detaillierte Fakten oder Daten angewiesen ist, auch über das Funktionieren der zuständigen Organe selber. Nicht umsonst entwickelt sich daher die *Kriminalstatistik als weitest bekannter Versuch zur Kriminalitätsmessung zunächst in Frankreich, dem neuzeitlichen Musterfall des mit einer zentralistischen und gut geschulten Verwaltung ausgestatteten Nationalstaates, bereits um die Wende zum 19. Jahrhundert (*Kriminalgeographie).
Ein schon früh erörterter Mangel der üblichen amtlichen Kriminalstatistik liegt aber darin, daß sie nur zählt bzw. das Auszählen von Mengen erlaubt. Globale Angaben über Stand und Entwicklung der Kriminalität (also aller gezählter Ereignisse zusammengenommen) sagten aber fast gar nichts aus, insofern Vorgänge unterschiedlichster Schädigungsrichtung und extrem unterschiedlichen Schweregehalts zusammengefaßt werden, angefangen beispielsweise von der Alltagsbeleidigung und der Entwendung kleinerer Gebrauchsgegenstände oder Lebensmittel über Angriffe mit Verletzungen oder große Finanzmanipulationen bis hin zur gemeingefährlichen Brandstiftung und zur Tötung.

Ein klassisches Mittel zur Differenzierung bildet die Straftatengliederung, für kriminalistische Bedürfnisse auch als sogenannte *Grundeinteilung der Straftaten bekannt. Ein Beispiel für eine sehr entwickelte systematische Straftatgliederung bildet die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für die Bundesrepublik Deutschland. Sie ist am Rechtsgutsdenken des Strafrechts orientiert und an die entsprechenden Klassifikationen des Strafgesetzbuches angelehnt. Die dort verwendeten Hauptgruppen sind: Straftaten gegen das Leben; Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung; Roheitsdelikte und Straftaten gegen die persönliche Freiheit; Diebstahl ohne erschwerende Umstände; Diebstahl unter erschwerenden Umständen; Diebstahl insgesamt; Vermögens- und Fälschungsdelikte; sonstige Straftatbestände nach StGB; strafrechtliche Nebengesetze. Die Strafverfolgungsstatistik verwendet andere, aber ähnliche Großgruppen unter Einschluß der Staatsschutzdelikte und Verkehrsdelikte, die bekanntlich bei der Polizeilichen Kriminalstatistik im hauptsächlichen System fehlen. Innerhalb der Gruppen richtet sich die PKS in der Detailaufgliederung nach sogenannten kriminalistisch-kriminologischen Kriterien. Danach werden die Delikte bei-spielsweise aufgeteilt nach dem Angriffsobjekt (etwa Diebstahl von Fahrrädern), nach der Ausführungsart (etwa überfallartige Vergewaltigung durch Gruppen) oder nach dem Tatmotiv (etwa Sexualmord), wobei inzwischen die Einzelnachweise sehr weit aufgefächert sind.
Eine entsprechend detaillierte Auswertung und auch öffentliche Darstellung der Sachlage, auch unter Verwendung von standardisierenden Kennwerten, wie der sogenannten *Häufigkeitszahl oder der *Kriminalitätsbelastungszahl bzw. -ziffer erlaubt bereits eine differenziertere Verständigung über die wahrgenommene und, von daher durch Interpretation mehr oder minder unzuverlässig zu erschließen, die tatsächliche Kriminalitätswirklichkeit in der Gesellschaft. Auch kann man durch Aufsummierung einzelner Deliktskategorien kriminologisch-kriminalpolitisch relevante Vergleiche anzustellen versuchen, wie beispielsweise den Vergleich der Entwicklung der *Gewaltkriminalität und der *Umweltkriminalität.

Für eine solide Kriminalstrategie der Polizei, für eine rationale Kriminalpolitik und Strafgesetzgebung in Parlament und Regierung reichen derartige Aufteilungen jedoch nicht aus. Stand und Zustand der *Inneren Sicherheit sind nur unvollkommen erfaßbar. Insbesondere bleibt die Qualität der Beeinträchtigung durch die insgesamt begangenen Straftaten in den verschiedensten Bereichen vielfach verborgen. Eine weitere Verbesserung führt über den Weg der Erfassung und Dokumentation von Zusatzkriterien. Diesen Weg geht teilweise auch die deutsche PKS seit einigen Jahren stärker als früher. Zu diesen qualitativ bedeutsamen Zusatzkriterien gehören: Vollendung gegenüber Versuch; ver-bleibender gegenüber dogmatisch einzustufendem Schaden bei entwendeten Gegenständen; Objektschaden bei zurückerstatteten Gegenständen; Sachschaden; Vermögensschaden; Personenschaden; besondere Opfermerkmale; besondere Merkmale der Tatverdächtigen; Opfer-Täter-Beziehung.

Auch damit sind die Probleme freilich nicht vollständig ausgeräumt. So bleibt bei Längsschnittbetrachtungen von Diebstahlsschäden die Geldentwertung bedeutsam; dies kann man durch rechnerische Korrekturen auf der Grundlage von Angaben der statistischen Ämter, beispielsweise des Kaufkraftindexes, bereinigen. Bei einem Vergleich verschiedener Deliktsarten im Quer- oder Längsschnitt fehlt es an entsprechenden einfachen Hilfsmitteln. So bedarf es bei der Frage, ob nun das Steigen der Gewaltkriminalität oder das Steigen der Umweltkriminalität besondere Bedeutung beanspruche, eines Vergleichsmaß-stabs, der es erlaubt, offenkundig ganz verschiedene Lebenssachverhalte auf einer einheitlichen Bewertungsebene zusammenzuführen, von anderen Streit-fragen, die mit der Anzeigeentwicklung und Verfolgungsintensität zusammen-hängen, einmal ganz abgesehen. Das sozusagen technische Kriterium, das den Vergleichsmaßstab liefern soll, ist die "Schwere" der einzelnen Straftaten bzw. dann die gesamte Schwere der Straftatensumme.
Die wissenschaftlichen Bemühungen zur Entwicklung eines Maßstabs für die Schwere werden unter den Stichworten der Schweremessung oder auch Kriminalitätsgewichtung geführt. Als Ergebnis der Gewichtung, auch Indexierung genannt, ergibt sich, in der systematischen Zusammenfassung, der sogenannte Kriminalitätsindex. Unter den bisherigen Versuchen ist der nach seinen Ent-wicklern benannte Sellin-Wolfgang-Index am bekanntesten geworden. Die Grundidee aller Indexierungssysteme besteht darin, daß die Bevölkerung gebeten wird, das relative Gewicht verschiedener Straftaten auf einer freien oder gebundenen Skala einzustufen, in der Regel bezogen auf einen Standardfall. Zu den vielen Streitpunkten dieser Forschungsrichtung gehören: die Vergleich-barkeit verschiedener Schadensdimensionen überhaupt; die sogenannte Ad-ditivität der Gewichtsanteile bei komplexen oder mehraktigen Delikten, der Konsens in der Bevölkerung (nach Geschlecht, Altersgruppen, Schichtangehörigkeit, politischer Orientierung usw.) über die Bedeutung verschiedenster Gewichtungsfaktoren. Praktisch betrachtet gelingt die Entwicklung von inte-grierten Skalen ganz gut, wie auch der jüngste Versuch von Wolfgang und Kollegen in den USA gezeigt hat, bei dem in einer landesweiten Studie eine repräsentative Auswahl von rund 10.000 Personen gebeten wurde, rund 300 Straftaten gewichtend einzustufen.

Auf der individuellen bzw. Mikroebene gehören zu den Verwendungsideen eines entwickelten Kriminalitätsindexes: die Gewichtung (der Taten) von Tätern, also etwa zum Zweck der Beurteilung ihrer *kriminellen Karriere; die rationale *Strafzumessung im Einzelfall nach der Schädigungsintensität der Tat bzw. der Taten; die Überprüfung des Einflusses von Behandlungsmaßnahmen oder Sanktionen, also etwa die Prüfung der Besserung im Verhalten des Täters nach dem sanktionierenden bzw. behandelnden Eingriff, falls nicht sowieso sofortige Resozialisierung eintritt (*Erfolgsbeurteilung). Auf der gesellschaftlichen bzw. Makroebene wird an folgende Verwendungen gedacht: beispielsweise die Evaluation kriminalstrategischer Vorhaben (etwa die Neuaufteilung regionaler Einsatzgebiete, die Bildung operativer Ermittlungsgruppen oder Schwerpunktdezernate, oder die Entwicklung neuer Einsatzkonzeptionen); die Effizienzbeurteilung kriminaltaktischer Vorgehensweisen (etwa der experimentellen Variation des Streifeneinsatzes); die Herstellung von Sanktionsgleichheit bzw. die Vermeidung von Strafungleichheit zwischen verschiedenen Gerichten; die Folgen der Einführung neuer Sanktionen (etwa Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht) oder der Abschaffung gängiger Sanktionen bzw. ihrer Vollstreckungspraxis (etwa das Experiment der Schließung des Jugendstrafvollzugs im amerikanischen Bundesstaat Massachusetts).

Insofern die Bevölkerung befragt wird, steht hinter der "Objektivierung", die mit Gewichtungssystemen erreicht werden soll, dennoch immer die je subjektive Realität der Befragten. Zu dieser Realität gehören ihre grundlegenden Einstellungen, auch Vorurteile, ihre Meinungen zu konkreten überdauernden Problemen oder auch aktuellen Fragen, ihre Hoffnungen und Ängste, ihre Wünsche und Befürchtungen. Die kollektive Gestalt dieser subjektiven Befindlichkeit ist sehr wichtig für das öffentliche Leben, gerade auch der Kriminalpolitik, Gesetzgebung, Strafverfolgung, Sanktionierung (Alternativen zum Strafen, Maßregeln), Strafvollstreckung, Strafvollzug, Rehabilitation sowie, organisatorisch gewendet, für die Akzeptanz der zuständigen Behörden durch die Bevölkerungsangehörigen und damit auch für die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten. Bedeutsame Stichworte dafür, die auch modernere Forschungsrichtungen kennzeichnen, sind beispielsweise: Kriminalitätseinschätzung und Verbrechensfurcht, Sicherheitslage und Sicherheitsgefühl; Anzeigebereitschaft und Strafbedürfnis, Nichtanzeige und Vergleichsbereitschaft (Konfliktausgleich); Einstellung zu den Behörden, Opfererfahrung, Behördenerfahrung, Medienberichterstattung und Medienwirkung sowie Konsequenzen dieser Gegebenheiten auf die vorweg genannten Bereiche.

Literatur:
- Bohle, H.H.: Soziale Probleme und Soziale Indikation. Berlin 1981.
- Bundeskriminalamt (Hrsg.): Straftatenklassifizierung und -gewichtung sowie ihre praktische Anwendung. Wiesbaden 1977.
- Westermann, R.; Hager, W.: Schwereeinschätzungen von Delikten in verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1986, 125-130.

Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991

Hans-Jürgen Kerner
© 2006-2024 Thomas Feltes | Impressum | Datenschutz