Kriminalpolitik I. Begriff
Es gibt keine einheitliche Definition davon, was unter „Kriminalpolitik“ zu verstehen ist. Manche meinen, Kriminalpolitik sei „der gesellschaftliche Prozess der Gestaltung und Legitimation des Strafrechts und seiner Effektuierung“ (Bottke [2006], Bemerkungen zur Kriminalprävention, in: Festschrift für Hans-Dieter Schwind, hrsg. von Thomas Feltes u.a., Heidelberg, S. 791, 796). Wer so denkt, beschränkt das Verständnis auf „die Betrachtung der Wirksamkeit des Strafrechts, die auf Verhütung und Bekämpfung von Verbrechen gerichtet ist“ (von Hippel, R. [1925]: Deutsches Strafrecht, Bd. 1, S. 584). Andere wiederum verstehen Kriminalpolitik als „die Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen zur Verbrechensverhütung und Ver¬brechens¬be¬kämpfung“ (statt aller Schwind [1980], Zur kriminalpolitischen Lage in der Bundesrepublik Deutschland, in: Präventive Kriminalpolitik, Heidelberg, S. 5 m.w.N.). Es gibt mithin ein enges und ein weites Verständnis von Kriminalpolitik, wobei das weite inzwischen dominiert. Es lassen sich also sämtliche Maßnahmen unter Kriminalpolitik fassen, die gezielt zur Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen ergriffen werden, gleichgültig, ob es sich um präventive und repressive Maßnahmen handelt. Akteur muss nicht unbedingt der Staat sein, etwa als Gesetzgeber, Richter oder Vollzieher (Putzke [2006], in: FS Schwind, S. 111, 112; so auch Prittwitz [2008], in: FS Hamm, S. 575, 577); auch nicht-staatliche Akteure (etwa private Sicherheitsdienste) können zur Reduzierung von Rechtsgutsverletzungen beitragen, weshalb deren Verhalten kriminalpolitisch relevant ist.
II. Kriminalpolitischer Ansatz
Kriminalpolitische Maßnahmen müssen sich zuallererst an ihrer Wirksamkeit messen lassen. Ob etwas wirkt, lässt sich nicht emotional entscheiden. Vielmehr gehört zur Wirksamkeit das Wissen über den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Deshalb sollte es zum kriminalpolitischen Mindeststandard gehören, zur Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen nur dann eine Maßnahme zu fordern oder anzuordnen, wenn die damit zusammenhängenden Phänomene bekannt sind und erklärt werden können. Die Rede ist insoweit von „rationaler Kriminalpolitik“. Diese Notwendigkeit und Basis der Kriminalpolitik stellt zugleich eine untrennbare Verbindung zur Kriminologie her. Ohne kriminologisches Wissen ist rationale Kriminalpolitik nicht denkbar. Zu diesem Wissen zählen etwa Erkenntnisse der Verhaltensforschung, der Sanktionenforschung oder des
Strafvollzugs.
Allerdings gerät rationale Kriminalpolitik auch rasch an Grenzen: Trotz eines großen Bestandes an gesichertem Wissen fehlen nach wie vor umfassende Erklärungsmodelle beim Erkennen und Verstehen der Ursachen kriminellen Verhaltens. Grund hierfür ist zum einen, dass kriminologische Forschung keine Lobby in der Politik hat, es sei denn sie passt ihr ins Konzept. Zum andern werden viele kriminologische Ansätze eher gegeneinander ausgespielt als harmonisiert (vgl. schon Hassemer [1976], in: Festschrift für Richard Lange, hrsg. von Günter Warda u.a., Berlin/New York, S. 501, 507/508). Wer eine solche „Kleinstaaterei“ betreibt, muss sich nicht wundern, wenn die Politik eine Kriminalpolitik vorzieht, die bei Wählerinnen und Wählern zwar gut ankommt, aber alles andere als rational ist.
Zudem ist es schwierig zu bestimmen, was Rationalität eigentlich ist. Dieser Maßstab kann bei genauerem Hinsehen allenfalls ein äußerer Rahmen sein, aber kein Kriterium mit handlungsanleitender Kraft. Ein echtes Kriterium für rationale Kriminalpolitik ist der Gedanke der
Effizienz. Denn Kriminalpolitik ist nur dann rational, wenn ihr ein effizientes System zur Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen zugrunde liegt (vgl. Kaiser [1993], in: Kriminologisches Wörterbuch, S. 280, 282). Zu verstehen ist unter
Effizienz das Verhältnis eines in definierter Qualität vorgegebenen Nutzens zu dem Aufwand, der zur Erreichung des Nutzens nötig ist. Effizient ist eine Maßnahme nur dann, wenn sie sowohl den Nutzen bewirkt (Effektivität) als auch den dafür notwendigen Aufwand möglichst gering hält. Rationale Kriminalpolitik muss sich folglich an Kosten und Nutzen orientieren. Richtet man Maßnahmen an diesem Kriterium aus, lässt sich von utilitaristischer Kriminalpolitik sprechen.
III. Entwicklungen und Kritik
Es ist heute nahezu unbestritten, dass Strafrecht in erster Linie dem Rechtsgüterschutz dient. Schon im Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform werden als maßgebliche Gesichtspunkte für eine Reform genannt: „der wirksame Schutz der Rechtsgüter, die schuldangemessene und gerechte Beurteilung der Tat …, die moderne Ausgestaltung des Sanktionensystems als taugliches Instrument der Kriminalpolitik mit dem Ziel einer Verhütung künftiger Straftaten“ (BT-Drucks. V/4094, S. 3).
Von diesen kriminalpolitischen Eckpunkten, wohlgemerkt formuliert Ende der 1960er Jahre, ist die aktuelle
Gesetzgebung weit entfernt. Wer die gesetzgeberischen Akte der letzten Jahre aufmerksam beobachtet hat, muss zu dem Ergebnis gelangen, dass staatliche Kriminalpolitik deutlich repressive Züge trägt. Die „Gefahr des internationalen
Terrorismus“ und der „Organisierten Kriminalität“, gepaart mit Begriffen wie „Feindstrafrecht“, gehören inzwischen zum gängigen Vokabular, wenn es um die Verschärfung des geltenden Rechts geht.
Mitnichten wird die Notwendigkeit bestritten, gesetzliche Strafbarkeitsvoraussetzungen zu schaffen, effektive Sanktionen anzudrohen und in einem leistungsfähigen Verfahren durchzusetzen. Ebenso wie diese Notwendigkeit besteht, ist aber bekannt, dass Strafrecht nur dann abschreckt, wenn Rechtsverstöße aufgedeckt und sanktioniert werden. Doch gerade dieser Aspekt wird von der Politik vernachlässigt. Bei den Strafverfolgungsbehörden fehlt es in der Regel an einem qualifizierten Aus- und Weiterbildungssystem und an einem fruchtbaren Erfahrungsaustausch zwischen verschiedenen Behörden (so auch Dannecker [2007], in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch Wirtschafts- u. Steuerstrafrechts, 3. Aufl., München, Rn. 55). Angesichts knappen Personals und zweifelhafter Leistungsmaßstäbe ist dafür keine Zeit vorhanden.
Anstelle die Qualität der Strafverfolgung zu verbessern und sinnvoll in Prävention zu investieren, schafft der Gesetzgeber hektisch Strafvorschriften und Eingriffsbefugnisse. Er verkennt dabei sowohl die Rolle als auch die Möglichkeiten des Strafrechts.
Derzeitige Kriminalpolitik ist demnach nur scheinbar rational, nicht zuletzt weil sie jenseits sachverständiger Beratung stattfindet oder zumindest eine Selektion sachverständigen Wissens zu beobachten ist. Festzustellen ist zudem eine Popularisierung, Politisierung und Entprofessionalisierung von Kriminalpolitik. Nur plakative Forderungen haben Aussicht, bei der Masse des Wahlvolkes wohlwollend zur Kenntnis genommen zu werden (vgl. Feltes [2002]: Hauptsache plakativ, in: die tageszeitung, Nr. 6848 (9.9.2002), S. 13; Pfeiffer/Windzio/Kleimann [2004]: Die Medien, das Böse und wir; in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, S. 415, 428/429. Die Ausrichtung der Politik orientiert sich am Wähler. Und der Wähler denkt mehrheitlich nicht verantwortungs-, sondern gesinnungsethisch, er bewertet kriminalpolitische Forderungen also nicht an ihren tatsächlich prognostizierten Wirkungen, sondern am Wünschenswerten, das erfahrungsgemäß meist irrational ist. So wird kaum geglaubt, dass die
Todesstrafe so gut wie keine abschreckende Wirkung auf potentielle Verbrecher hat oder dass die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Jugendlichen grundsätzlich dann am niedrigsten ist, wenn sie statt ins Gefängnis gesteckt zu werden, eine abgestufte und tendenziell nachsichtige
Behandlung erfahren (vgl. zur Rückfallwahrscheinlichkeit etwa Ostendorf [2007], Jugendgerichtsgesetz, Kommentar, 7. Aufl., Köln u.a., § 5 Rdnr. 20).
Es besteht faktisch ein großer Bedarf nach rationaler Kriminalpolitik, um irrationale Politik zu verhindern. Abhilfe schaffen kann nur effektive Politikberatung. Einerseits gehört dazu, gesetzgeberische Maßnahmen bereits im Vorfeld einer Wirksamkeitskontrolle zu unterwerfen, also eine „fest institutionalisierte Beteiligung der Wissenschaft am
Gesetzgebungsprozeß“ (Jäger [1993]: Irrationale Kriminalpolitik, in: Festschrift für Horst Schüler-Springorum, hrsg. von Peter-Alexis Albrecht u.a., Köln u.a., S. 229, 242). Andererseits sollte es Aufgabe guter Kriminalpolitik sein, eine kritische „Nachsorge“ zu übernehmen, also kriminalpolitische Maßnahmen zu evaluieren. Wird unabhängige
Evaluation als notwendiges Steuerungselement akzeptiert und eingesetzt, steigert das nicht nur die Qualität der Kriminalpolitik, sondern spart zugleich Steuermittel.
Literatur
- Prittwitz, Cornelius 2008: Kriminalpolitik in der Mediengesellschaft – Eine Skizze; in: Festschrift für Rainer Hamm, hrsg. von Regina Michalke u.a., Berlin, S. 575 ff.
- Putzke, Holm 2006: Was ist gute Kriminalpolitik?, Eine begriffliche Klärung; in: Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen, Fest¬schrift für Hans-Dieter Schwind, hrsg. von Thomas Feltes, Gernot Steinhilper und Christian Pfeiffer, Heidelberg u.a., S. 111 ff.
- Kaiser, Günther 1993: Kriminalpolitik, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, hrsg. von Günther Kaiser u.a., 3. Aufl., Heidelberg, S. 280 ff.
- Schwind, Hans-Dieter 1993: Kriminalität als Gegenstand der Kriminalpolitik, in: Festschrift für Horst Schüler-Springorum, hrsg. von Peter-Alexis Albrecht u.a., Köln u.a., S. 203 ff.
- Feltes, Thomas 1991: Kriminalpolitik; in: Kriminologie Lexikon, hrsg. von Hans-Jürgen Kerner, 4. Aufl., Heidelberg, S. 201 ff.
- Zipf, Heinz 1980: Kriminalpolitik, 2. Aufl., Heidelberg/Karlsruhe.
- Naucke, Wolfgang 1977: Die Abhängigkeiten zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik, Kiel.
Schlüsselwörter:
Strafrecht, Strafverfolgung, Strafverschärfung, Kriminalisierung, Kriminologie
Holm Putzke