Kriminologischer Dienst, Kriminologische Forschungsgruppen Der Kriminologische Dienst ist eine Einrichtung, die praxisorientierte kriminologische Forschung betreibt. Gemäß dem Wortlaut des § 166 StvollzG obliegt ihm die wissenschaftliche Fortentwicklung des Vollzuges, insbesondere der
Behandlungsmethoden und die Nutzbarmachung der Ergebnisse für Zwecke der Strafrechtspflege.
Die Vorgeschichte des Kriminologischen Dienstes widerspiegelt anhand der wechselnden Bezeichnungen und Aufgaben der Untersuchungsstellen auch den jeweiligen Zeitgeist in der Kriminologie: die ersten kriminalanthropologischen Dienste am Anfang dieses Jahrhunderts, ein einheitlicher kriminalbiologischer Dienst zur Zeit des Dritten Reiches, ein kriminalpsychologischer Dienst in Hamburg während der ersten Nachkriegsjahre. Danach vermehrten sich die Forderungen nach einer Institutionalisierung des Kriminologischen Dienstes. Die weitestgehenden Organisationsvorschläge enthielt der Alternativ-Entwurf zum
Strafvollzugsgesetz (siehe §§ 37 - 39 AEStvollzG).
Die Einführung des Kriminologischen Dienstes durch das
Strafvollzugsgesetz im Jahre 1977 hat die damit verbundenen Erwartungen nur teilweise erfüllt: das Gesetz sieht weder eine Institutionalisierungspflicht vor, noch regelt es Organisationsformen und Aufgaben näher. Da die personelle und finanzielle Ausstattung in das Ermessen der Justiz gestellt ist, ist wegen der Mittelknappheit im Vollzug vieles nur Programmsatz geblieben. Demzufolge ist auch die praktische Umsetzung des § 166 StvollzG in den einzelnen Bundesländern recht unterschiedlich erfolgt: Fünf Bundesländer haben, mit recht unterschiedlicher Ausstattung, einen eigenständigen Kriminologischen Dienst eingerichtet, in den anderen Bundesländern werden diese Aufgaben von den Referenten der
Strafvollzugsabteilung in den Ministerien bzw. Senaten mitbetreut.
Vorbildlich war für viele Jahre, bis zur Änderung in jüngerer Zeit, die Ausgestaltung des Kriminologischen Dienstes in Niedersachsen: in der Referatsgruppe des Justizministeriums "Planung, Forschung, Soziale Dienste" betrieben Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete zusammen mit Praktikern eine breitgefächerte Forschung, die sich nicht unmittelbar auf den
Strafvollzug beschränkte, sondern auch Prognose- und allgemeine Sanktionsforschung (z. B. ambulante Maßnahmen, Bewährungshilfe, Alternativen zum
Strafvollzug) miteinschloß. Zugleich erprobten sie Modelle zur Kriminalitätsvorbeugung und
Resozialisierung. Bekanntgeworden sind Projekte wie die "Anlaufstellen für Straffällige" und der "
Resozialisierungsfonds für entlassene Strafgefangene" sowie Präventions- und
Diversionsprogramme.
In den anderen Bundesländern wurden Untersuchungen zur
Effizienz besonderer
Behandlungseinrichtungen (sozial- und Drogentherapie), Spezialstudien zum Vollzug (Vollzugslockerungen, Freigang, Freizeitverhalten, Entlassungssituation, U-Haft) und Rückfalluntersuchungen durchgeführt.
Bei der Wahl des Aufgabenbereichs und der Arbeitsmethoden hat der Kriminologische Dienst einen großen Spielraum. Untersuchungsgegenstand können alle Maßnahmen in, vor, neben und auch nach dem
Strafvollzug sein (einschließlich Alternativen zum
Strafvollzug) sowie die Persönlichkeitserforschung der Gefangenen. Er kann selbst Untersuchungen durchführen, er kann Untersuchungen anderer Forschungseinrichtungen (z. B. Universitäten) veranlassen und fördern, er kann
Behandlungsprogramme modellhaft erproben, wissenschaftliche Begleitforschung zu
Behandlungsmaßnahmen betreiben sowie aufgrund von Forschungsergebnissen Gesetzesinitiativen entwickeln. Zudem kommt ihm eine Vermittleraufgabe zwischen *Wissenschaft und Praxis zu, indem er den Erkenntnisstand der Kriminologie (samt angrenzender Wissenschaften) verfolgt und die einschlägigen Ergebnisse an die Praxis weiterleitet, um eine entsprechende Umsetzung anzuregen bzw. um vor gegenläufigen Maßnahmen zu warnen.
Die Vorteile solcher praxisorientierter, behördeninterner Forschung liegen in der Kenntnis der Praxisprobleme, der Nähe zum Untersuchungsgegenstand, dem leichten Zugang zu den Daten, der engen Zusammenarbeit mit den Praktikern. Als justizinterne Einrichtung kann der Kriminologische Dienst jedoch leicht in den Verdacht einer Legitimations- und Alibiforschung geraten. Um dennoch die nötige Distanz und Kritikfähigkeit wahren zu können, ist es erforderlich, daß der Kriminologische Dienst mit einem Forscherteam mit interdisziplinärer Ausrichtung (Kriminologen, Soziologen, Psychologen,
Sozialarbeiter) ausgestattet wird, daß eine Beeinflussung der Forschungsvorhaben durch die Mittelvergabe ausgeschlossen ist, daß ein ständiger Kontakt zu anderen Forschungseinrichtungen besteht und daß die eigenen Untersuchungen veröffentlicht werden, um sich dem kritischen Urteil der Fachleserschaft zu stellen.
Literatur:
- Dolde, G.: Wissenschaftliche Begleitung des
Strafvollzugs unter besonderer Berücksichtigung des Kriminologischen Dienstes.
- Zeitschrift für
Strafvollzug und Straffälligenhilfe 1987, 16 ff..
- Oberthür, W.: Kriminologie in der Strafrechtspraxis. Kriminologischer Dienst und Zentralinstitut für Kriminologie. Stuttgart 1976.
- Schwind, H.D.; Berckhauer, F.;Steinhilper, G. (Hrsg.): Präventive
Kriminalpolitik (Kriminologische Forschung, Bd. 1). Heidelberg 1980.
- Steinhilper, G.: Der Kriminologische Dienst: Eine Herausforderung für Wissenschaft und Praxis: In: Brusten, M.; Häußling, J.M.; Malinowski, P. (Hrsg.): Kriminologie im Spannungsfeld von
Kriminalpolitik und Kriminalpraxis. Stuttgart 1986, 61 ff..
- Feltes, Th. (Hrsg.): Kriminologie und Praxisforschung. Bonn 1990.
Entnommen mit freundlicher Genehmigung des
Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991
Hans-Jürgen Kerner