Normen Normen sind mehr oder weniger bindende, allgemein geltende Regeln für soziales Handeln. Sie legen fest, was in bestimmten wiederkehrenden Situationen geboten oder verboten ist. In ihnen kristallisieren sich allgemeine soziokulturelle Wertvorstellungen heraus. Durch
Sozialisation werden sie internalisiert, durch praktisches Handeln externalisiert und modifiziert, durch Sanktionen stabilisiert.
Der Mensch als instinktarmes, nicht festgelegtes und umweltoffenes Wesen kann mit Hilfe von Normen zur Regelmäßigkeit und Gleichförmigkeit von sozialen Handlungen gelangen. Dadurch entlasten sie die Handelnden von der Aufgabe, für jede Handlungssituation von Grund auf angemessene neue Handlungs- und soziale Koordinierungsweisen zu finden. Soziale Mitakteure können durch Normen eher ein regelmäßiges Verhalten erwarten, somit selbst konsistent handeln sowie soziale Beziehungen anknüpfen und bewahren.
Soziale Regeln und Normen werden befolgt oder gebrochen, auch wenn sie nicht ausdrücklich bekannt sind, sondern "nur" vermutet werden. Sie können sehr allgemein gültig sein (die Zehn Gebote) oder eher aufgaben-, bereichs- und gruppenspezifisch. Normen, die das Recht und die Justiz setzen, können durchaus den ("gefühlten") Sitten, Gerechtigkeitsvorstellungen, der Moral oder den Gewohnheiten einer
Subkultur zuwider laufen. Normen können den Orientierungen der Akteure und selbst den Vorgaben von Institutionen entgegenstehen. Da in vielen Handlungssituationen eine Vielzahl verschiedener, mitunter unvereinbarer gesellschaftlichen Erwartungen zu berücksichtigen sind, wird das viel zu schlichte Schema von Norm und Abweichung häufig unterlaufen.
So gesehen ist es nicht möglich, Normen als die letzte Grundlage des Handelns zu betrachten, wie etwa Heinrich Popitz dies im Sinne einer normativen Konstruktion der Gesellschaft vorschlägt, sondern Normen sind ihrerseits kognitiv und sozial vorstrukturiert im Sinne der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit. Popitz vertritt ein Erklärungsmodell von Prozessen sozialer Ordnungsbildung, das er auf soziale Imperative gründet, die er als den situativen individuellen Motiven vorgängig erachtet, deren Genese und kognitive Vorstrukturierung er aber nicht berücksichtigt. Damit fehlt seinem Ansatz ein handlungstheoretischer Kern, der erst notwendige Aussagen darüber zulässt, wie sowohl bei der Konstitution als auch bei der Normreproduktion die Motivstrukturen der Handelnden wirksam werden oder wie es dazu kommt, dass eine Normeinhaltung nicht mehr garantiert ist. Die praktische Orientierung an Normen und die kognitiven Grundlagen dafür bleiben in Popitz' Ansatz unerklärt. Letztlich dreht sich Popitz' Argumentation sogar im Kreis, weil er nicht angibt, was Normen konstituiert, da an dieser ja nicht selbst wieder Normen angeführt können. So ist festzustellen: Normen ihrerseits müssen sozial legitimiert sein, damit als gültig anerkannt und in ihrer Wirkung als stabile Erwartung vorauszusetzen. Handelnde haben stets das Problem, von Normen mehr oder weniger explizit und präzise zu wissen und über die Bedeutung der Normen Bescheid zu wissen.
Literatur:
- Berger, Peter L./Luckmann, Thomas 1977: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M.
- Maurer, Andrea 2003: Normen: das Fundament der Gesellschaft. Die Normkonzeption von Heinrich Popitz und neuere Theorieentwicklungen, in: Allmendinger, Jutta (Hg.): Entstaatlichung und soziale Sicherheit. Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für
Soziologie in Leipzig 2002. 2 Bände + CD-ROM, Opladen, 1173-87
- Ortmann, G. 2003: Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung, Frankfurt/M.
- Popitz, H. 1980: Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen
- Simon, L. 1987: Theorie der Normen - Normentheorien: eine kritische Untersuchung von Normenbegründungen angesichts des Bedeutungsverlusts des metaphysischen Naturrechts, Frankfurt/M.
- Zimmerman, D. H. 1978: Normen im Alltag, in: Hammerich, Kurt/Klein, Michael (Hg.): Materialien zur
Soziologie des Alltags (KZfSS Sonderheft 20), Opladen, 86-99
Peter Stegmaier