Ökonomischer Ansatz zur Erklärung kriminellen Verhaltens Der ökonomische Ansatz zur Erklärung kriminellen Verhaltens nach Gary S. Becker
Viele Ökonomen definieren ihr Fach nicht über den Gegenstand, sondern über die Methode: eine Theorie der rationalen Wahlhandlungen zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Aus der Auffassung, die ökonomische Methode könne prinzipiell alle sozialen Phänomene erschließen, da diese durch rationale Wahlhandlungen konstituiert seien, entwickelte Gary S. Becker ein konsistentes Forschungsprogramm. Er selbst wandte diesen von ihm entwickelten ökonomischen Ansatz (economic approach) auf verschiedene soziale Phänomene wie beispielsweise Diskriminierung, Fruchtbarkeit aber auch Kriminalität an und erhielt für diese Arbeiten 1992 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Gary S. Becker ist dem wirtschaftswissenschaftlichen Paradigma der Neoklassik zuzuordnen.
Mit Beckers Arbeiten wurden grundsätzlich alle sozialen Phänomene ein originärer Forschungsgegenstand der Ökonomen. Hierfür wurde der Ausdruck des ‚ökonomischen Imperialismus’ geprägt, der keineswegs nur von Kritikern jener Disziplinen benutzt wird, deren Feld nun auch von Ökonomen bestellt wird, sondern auch von Ökonomen selbst. Dabei betonen diese, dass andere Disziplinen mitnichten obsolet würden, da sie mit ihrem Spezialwissen innerhalb wie außerhalb des ökonomischen Ansatzes ihren Raum hätten.
Gleichzeitig wird die neoklassische Ökonomik wegen ihrer mathematischen Argumentation und Beweisführung als die Sozialwissenschaft betrachtet, die der Exaktheit der Naturwissenschaften nahe komme und daher anderen Sozialwissenschaften methodisch tendenziell überlegen, mithin die ‚Königin der Sozialwissenschaften’ sei. Becker wandte die weitgehende formal mathematische – nicht empirisch-statistische – Darstellung auf die verschiedensten Bereiche menschlicher Wahlhandlungen an und fasste seine Argumentation und Beweisführung in Optimalitätsbedingungen und -gleichungen. Möglich ist dies aufgrund der Prämisse, dass menschliche Wahlhandlungen, wie beispielsweise die Entscheidung kriminell zu werden, auf der Kalkulation von Kosten und Nutzen beruhten:
So realisiert der unentdeckte Straftäter Gewinne aus seiner Tat, während ihm im Falle einer Verurteilung Kosten entstehen: Durch eine Geldbuße oder durch seine Haftzeit, in der seine Einkommensmöglichkeiten zumindest eingeschränkt sind. Der Gesellschaft wiederum entstehen Gewinne durch empfangene Geldbußen, aber auch Verluste durch die Ausgaben der öffentlichen Hand beispielsweise für die Strafverfolgung und den
Strafvollzug und die Summe der privaten Aufwendungen zur Vermeidung einer Schädigung beispielsweise durch Investitionen in Sicherheitstechnik. Als ökonomische Parameter formuliert, könnten rationale Wahlhandlungen in Optimalitätsbedingungen und -gleichungen ausgedrückt werden. Sind jedoch sowohl die Kriminalität als auch die Kriminalitätsbekämpfung formal als Optimierungsaufgabe gefasst, gibt es auch eine optimale Kriminalitätsrate. Denn es sei keinesfalls ökonomisch sinnvoll, Kriminalität möglichst vollständig zu unterbinden, da hierfür prohibitiv viele Ressourcen aufgewandt werden müssten. In seinem zuerst 1968 veröffentlichten Aufsatz Crime and Punishment. An Economic Approach sieht Becker die damalige liberale
Kriminalpolitik in den USA in Einklang mit seiner Optimalitätsanalyse.
Um das Optimum im Sinne einer „optimalen Strategie zur Bekämpfung der Kriminalität“ (Becker) zu bestimmen, werden die von Becker identifizierten relevanten Kosten in fünf Kategorien eingeteilt: 1) die durch sie verursachten Schäden, 2) die möglichen
Strafen, 3) die Ausgaben für Strafverfolgung und Strafverfolgungsbehören, 4) die Kosten für den
Strafvollzug und schließlich 5) die privaten Ausgaben für die Prävention. Diese fünf Kategorien und ihr Verhältnis zu der gesamten Anzahl von Straftaten werden von Becker mathematisch in Form der ersten Ableitung ihrer jeweiligen Nutzenfunktion (Kostenfunktion), der Grenznutzenfunktion (Grenzkostenfunktion), formuliert, die beispielsweise folgende Zusammenhänge abbilden: Das Ausmaß der Schäden steigt mit dem Umfang der kriminellen Aktivitäten, während mit einer zunehmenden Verurteilungswahrscheinlichkeit die Zahl der Straftaten sinkt. Durch das Umformen seiner Funktionen erhält Becker schließlich zwei maßgebliche Entscheidungsgrößen: Entdeckungswahrscheinlichkeit und Strafmaß. Durch die richtige Wahl dieser beiden Größen könnten die gesellschaftlichen Kosten durch Kriminalität optimiert werden.
Diesen Kernaussagen fügt Becker wichtige Differenzierungen hinzu: Zum einen bezüglich der Täter, da die Entdeckungswahrscheinlichkeit einen größeren Einfluss auf die Kriminalitätsrate habe als das drohende Strafmaß. Ebenso thematisiert er sowohl eine individuell variierende Risikoneigung als auch impulsiv handelnde Täter – allerdings sieht er auch ‚irrationale’ Akteure einer ökonomischen Analyse zugänglich. Zum anderen differenziert Becker die gesellschaftlichen Reaktionen auf Kriminalität: Geldstrafen seien Haftstrafen vorzuziehen, da die Haftkosten ebenso gesellschaftliche Verluste sind, wie die erzwungene Untätigkeit der Inhaftierten, die andernfalls außerhalb des Gefängnisses einer produktiven Beschäftigung nachgehen könnten. Schließlich differenziert er zwischen den einzelnen Vergehen: Da Verbrechen wie Mord und Vergewaltigung nichtkompensierbare Schäden bewirkten, sei eine Kompensation durch Geldstrafen nicht möglich. Diese Delikte seien daher kriminell und damit Gegenstand des Strafrechts und des
Strafvollzuges, während die kompensationsfähigen Delikte über Geldstrafen auszugleichen seien und daher dem law of torts (Recht der unerlaubten Handlungen) zugerechnet werden.
Schließlich verbindet Becker das individuelle Kalkül des Täters und die gesellschaftliche Reaktion auf Straftaten und fordert: Je geringer die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung sei, desto höher müsse die
Strafe sein. Eine Forderung, die sich bereits bei Bentham (1748 – 1832) findet. Tatsächlich betont Becker (1968), dass er seinen ökonomischen Ansatz als Wiederbelebung und Modernisierung älterer Anwendungen eines ökonomischen Kalküls auf kriminalpolitische Fragestellungen sowohl durch Beccaria (1738 – 1794) als auch durch Bentham sieht.
In der Tradition Benthams steht auch die Beschränkung auf die zwei polare Kategorien des Utilitarismus, pleasure und pain, die bei Becker jedoch in die ökonomischen Kategorien Kosten und Nutzen überführt sind. Genau dies macht die postulierte Stärke des ökonomischen Ansatzes aus: Die Beschränkung auf wenige durch das Kosten-Nutzen-Kalkül erschlossene Parameter. Doch sind die von Becker genannten Zusammenhänge der von ihm gewählten Einflussgrößen keinesfalls in allen Fällen überzeugend. Beispielsweise lässt sich sein Postulat, mit der Strafhöhe nehme auch die abschreckende Wirkung der
Strafe zu, empirisch nicht feststellen. So weisen in der Bundesrepublik Deutschland gerade die zu relativ hohen Haftstrafen Verurteilten die höchste Rückfallquote auf. Auch der von ihm behauptete inverse Zusammenhang von Einkommen und Kriminalitätsrate lässt sich in dieser Eindeutigkeit empirisch nicht bestätigen [vgl.
Armut und Arbeitslosigkeit und Kriminalität].
Gelingt es jedoch nicht, alle forschungsrelevanten Parameter auf formal mathematischem Wege zu erschließen, behalten komplexere (kriminal-)soziologische Forschungsprogramme ihre Bedeutung: entweder für die Überprüfung der behaupteten sozialen Zusammenhänge (ex post) oder zur Bestimmung der relevanten sozialen Zusammenhänge (ex ante). Dies führt – unabhängig von einer möglichen Grundsatzkritik am neoklassischen Paradigma – zu einem allgemeinen Einwand gegenüber einer mathematisch argumentierenden Ökonomik: Ihre Argumentation und Beweisführung setzen voraus, dass die jeweils mathematisch ausgedrückten Zusammenhänge bereits verstanden sind.
Auch wurde darauf hingewiesen, dass ein streng auf das Nutzenkalkül abstellendes Modell leicht tautologische Züge bekommt. Deutlich wird dies, wenn auch konträres Verhalten auf Nutzenerwägungen zurückgeführt wird, so dass beispielsweise ebenso derjenige seinen Nutzen mehrt, der eine wohltätige Einrichtung bestiehlt, wie auch derjenige, der ihr eine Spende zukommen lässt. Jedoch kann eine Theorie, die ex ante jedes Verhalten auf das Nutzen-Kalkül zurückführt, weder etwas erklären, noch kann sie falsifiziert werden, so Joas und Knöbl.
Schließlich wurde kritisiert, dass eine auf ein strenges Kosten-Nutzen-Kalkül beschränkte mathematisch formalisierte Ökonomik ein Forschungsprogramm sei, welches sich in der Nähe des Sozialdarwinismus bewege. Zumindest verbindet Becker ökonomische und soziobiologische Argumentationsmuster in seinem Aufsatz Altruismus, Egoismus und genetische Eignung: Ökonomie und Soziobiologie miteinander. Jedoch hat die Soziobiologie ähnliche Begründungsprobleme wie der Sozialdarwinismus, wenn aus Beobachtungen der Natur (deskriptiv) auf die Wünschbarkeit (präskriptiv) geschlossen wird. Dieser Versuch führt zu einem naturalistischen Fehlschluss (auch Sein-Sollen-Fehlschluss), da sich der Begründungszusammenhang nicht ohne zusätzliche präskriptive Annahmen herstellen lässt.
Literatur:
- Becker, G. S. 1996. Accounting for Tastes. London und Cambridge MA: Harvard University Press.
- Becker, G. S. 1993. Altruismus, Egoismus und genetische Eignung: Ökonomie und Soziobiologie [zuerst 1976]. In: Derselbe. Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens. 3. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck, 317-332.
- Becker, G. S. 1993. Kriminalität und
Strafe [zuerst 1968]. In: Derselbe. Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens. 3. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck, 39-96.
- Birnbacher, D. 1992. Der Utilitarismus in der Ökonomie, in: Bievert, B./Held, K./Wieland, J. (Hrsg.): Sozialphilosophische Grundlagen ökonomischen Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 65-85.
- Gräfrath, B. 2008. Sozialdarwinismus. In: Gosepath, Stefan; Wilfried Hinsch; Beate Rösler (Hrsg.). Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Band 2 N-Z. Berlin/New York: de Gruyter, 1211-1214.
- Gräfrath, B. 2008. Soziobiologie. In: Gosepath, Stefan; Wilfried Hinsch; Beate Rösler (Hrsg.). Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Band 2 N-Z. Berlin/New York: de Gruyter, 1254-1257.
- Jehle, J.-M.; W. Heinz, und P. Sutterer. 2003. Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen: eine kommentierte Rückfallstatistik. Mönchengladbach: Forum-Verlag Godesberg.
- Joas, Hans und W. Knöbl. 2011. Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Pies, I. und M. Leschke (Hrsg.). 1998. Gary Beckers ökonomischer Imperialismus, Tübingen: Mohr Siebeck.
- Rolle, R. 2005. Homo oeconomicus. Wirtschaftsanthropologie in philosophischer Perspektive, Würzburg: Könighausen & Neumann.
Schlüsselbegriffe
Ökonomie
Ökonomischer Ansatz
Kriminalitätstheorie
Kriminalpolitik
Ingo Techmeier