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Pädophilie
 
Das deutsche Strafrecht kennt keine Pädophilie, sondern nur den sexuellen Missbrauch an Kindern unter 14 Jahren (§ 176 StGB) oder an Schutzbefohlenen bis zum 16. bzw. zum 18. Lebensjahr (§ 174 StGB). Das Strafrecht unterscheidet nicht, ob Täter eine besondere Vorliebe für kindliche Sexualpartner haben. Es macht aber kriminologisch Sinn, zwischen sexuellen Missbrauchern und Pädophilen (viele Autoren sprechen auch von Pädosexualität) zu unterscheiden.
Der Begriff Pädophilie bedeutet Liebe zu Kindern. Der Begriff wurde als „paedophilia erotica“ von Krafft-Ebing eingeführt und meint erotisierte bzw. sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und nicht geschlechtsreifen Kindern. Krafft-Ebing hielt die Störung zunächst für ein Ausweichen gehemmter Männer vor genitaler Heterosexualität; erst später erkannte er den eigenständigen Charakter der Störung.
Bis zum 17. Jahrhundert gab es die Begriffe `Kindheit´ und `Kinder´ nicht. Kinder wurden entweder wie kleine Erwachsene oder gar nicht als Person gesehen. Sexuelle Handlungen vor und an Kindern waren üblich (Foucault 1983). Dabei galten Kinder nicht als rein und unschuldig; ab dem 18. Jahrhundert wurde die Schädlichkeit der kindlichen Masturbation und die Homosexualität der Jungen (nicht: der Mädchen!) thematisiert. Bevor man über sexuellen Missbrauch oder über Pädophilie sprechen konnte, mussten zunächst Kinder als eigenständige Wesen erkannt werden, als unschuldig – und schutzwürdig – bewertet und sexuelle Handlungen von Erwachsenen an Kindern als schädlich definiert werden. Schließlich musste man Täter, die solche Handlungen begehen, als psychisch gestört definieren, bevor die Zuordnung einer klinischen Diagnose möglich war.
Die Diagnose einer Pädophilie (nach ICD-10 oder DSM-IV-TR) setzt voraus: eine mindestens sechzehnjährige Person verspürt über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten wiederkehrende intensive sexuelle Phantasien oder drängende Bedürfnisse zu sexuellen Kontakten mit vorpubertären Kindern und/oder hat dieses Bedürfnis ausgelebt. Dabei muss der Altersunterschied zwischen dem Täter und dem Kind mindestens fünf Jahre betragen (bei einem 18jährigen wäre das Kind also höchstens 13 Jahre). Ein einzelner Vorfall erfüllt nicht die Voraussetzung zur Vergabe der Diagnose, insbesondere wenn der Täter selbst noch Jugendlicher ist. Adoleszente, die eine dauerhafte sexuelle Beziehung zu einem 12 – 13jährigem Partner haben, sind nicht als pädophil zu bezeichnen (Saß et al. 2003). Die Diagnosekataloge nehmen nicht zum psychischen Hintergrund Stellung. Es wird zwischen Pädophilie als Hauptströmung und Nebenströmung unterschieden. Die erste Gruppe wird auch als kernpädophil bzw. als strukturiert oder fixiert pädophil bezeichnet.
Tatdynamik: Wer kernpädophil ist, der vermeidet sexuelle Kontakte zu Erwachsenen, sondern ist fixiert auf kindliche Partner, die er in der Regel idealisiert, während Erwachsene eher abgelehnt werden. Die Täter bevorzugen meist ein Geschlecht (also entweder Jungen oder Mädchen; Täter, die sowohl Jungen als auch Mädchen missbrauchen, sind seltener) und haben auch Vorlieben für ein bestimmtes Alter; in der Regel handelt es sich um 7 – 11jährige oder um 11 – 14jährige. Die Täter suchen gezielt nach solchen Kindern. Sie zeigen erhebliche Kompetenzen, Kinder zu finden, denen Anerkennung und Zuneigung fehlt. Oft suchen die Täter sogar Kontakt zu den Eltern. Wichtig ist, dass das sexuelle Interesse an den begehrten Kindenr nachlässt, wenn diese eine bestimmte körperliche Entwicklungsstufe verlassen haben. Pädophile lieben also nicht Kinder, sondern eher Entwicklungsstufen. Strukturierte Pädophile beschäftigen sich neben sexuellen Aktivitäten auch mit der Freizeit von Kindern, helfen bei Schulaufgaben, usw. (Solche Täter finden sich denn auch in pädagogischen Berufen, unter Sporttrainern, usw.) Das Spektrum der pädosexuellen Handlungen reicht von Berührungen und Manipulationen am kindlichen Genital bis zu schwereren sexuellen Handlungen, die dem Kind auch Schmerzen bereiten können. Häufig bleiben die Handlungen aber zurückhaltend. Strukturierte Pädophile sehen sich nicht als gestört. Sie vermeiden eine psychotherapeutische Behandlung. Sie leiden vielmehr, weil die Gesellschaft ihnen verwehrt, mit Kindern Kontakt zu haben. Diese Tätergruppe argumentiert häufig, in der Antike (oder in Marokko, Thailand, usw.) sei Kinderliebe auch erlaubt gewesen.
Zur zweiten, größeren Tätergruppe gehören z. B. Lern- und Geistig Behinderte (oder sehr selbstunsichere Menschen), die eigentlich gern Kontakt mit gleichaltrigen Sexualpartnern hätten, aber Hemmungen haben, danach zu suchen. Sie suchen sexuelle Kontakte zu Kindern, weil sie sich hier überlegen und erwachsen fühlen können; sog. Alterspädophile, die bis zum 5. Lebensjahrzehnt normale heterosexuelle Beziehungen geführt haben; Dissoziale Täter und Täter, die eine eigene Opfergeschichte mit umgekehrten Rollen inszenieren (diese Gruppen können sadistisch geprägte sexuelle Angriffe auf Kinder begehen).
(Bei Konsumenten von Kinderpornographie im Internet geht es selten um Pädophilie; hier beginnt die Diskussion in der Fachwelt erst, ob es sich um generell um ein therapiebedürftiges Störungsbild – nahe den Suchterkrankungen (Roth 2004) – handelt oder um Hedonismus – alles ausprobieren wollen).
Über das Vorkommen von Pädophilen in der Bevölkerung liegen keine verlässlichen Zahlen vor. Beier schätzt die Zahl insgesamt auf etwa ein Prozent der männlichen Gesamtbevölkerung zwischen 20 und 90 Jahren, was etwa 300.000 Personen umfassen würde. Fiedler (2004) geht von 12 – 20% der aufgefallenen Sexualstraftäter aus; das wären 1.700 – 3.000 pro Jahr.
Neurowissenschaftliche Studien: Befunde über genetische Besonderheiten oder hormonelle Veränderungen bei Pädophilen liegen nicht vor, Chromosomen-Anomalien sind selten. Pädophile unterscheiden sich von `normalen´ Männern nicht durch Triebstärke. Studien zeigen Veränderungen im Frontalhirn und im rechten Temporallappen des Gehirns nach Schädel-HirnVerletzungen und Tumoren. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren (fMRT) ergaben Hinweise auf Veränderungen in Regionen für die Verarbeitung visueller sexueller Reize und eine stärkere Aktivierung der Amygdala und des Hypothalamus bei homosexuell strukturierten Pädophilen. Andere Studien belegten Schwächen, Emotionen in Gesichtern von erwachsenen Personen zu erkennen. Da homosexuell fixierte Pädophile therapeutisch schwerer erreichbar seien als heterosexuelle Pädophile und ein höheres Rückfallrisiko hätten, vermutet Schiffer (2006,164f) auch biologische Ursachen. Übersichtsarbeiten fassen zusammen, derzeitigen Kenntnisse zu neurobiologischen Grundlagen der Pädophilie basierten auf nur wenigen Studien mit kleinen Stichproben, deren Befunde sehr heterogen seien. Wegen methodischer Mängel müssten die Befunde zurückhaltend interpretiert werden, weitere Studien seien erforderlich. Das Geschehen sei vermutlich multidimensional, umfasse kognitive, emotionale, motivationale Aspekte sowie Prozesse des autonomen Nervensystems. Alle Autoren warnen davor, gruppenstatistische Ergebnisse auf Einzelfälle anzuwenden. Außerdem bleibt unklar, was Ursache und was Wirkung ist. Die meisten Untersuchungen befassen sich außerdem nur mit gefassten und verurteilten Tätern; nur wenige Studien nehmen das Dunkelfeld in den Blick (so Lautmann 1994 und Hoffmann 1996).
Schuldfähigkeit: Wer pädophil ist, weiß sowohl um seine Neigung und um das strafrechtliche Verbot sexueller Handlungen mit Kindern. Die Täter sind vor und während ihrer Handlungen meist steuerungsfähig und planen ihr Handeln. Man geht nicht mehr von einer Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) aus und billigt höchstens eine verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) zu. Deshalb erfolgt trotz einer hohen Rückfallrate heute seltener die Einweisung in die Psychiatrie (§ 63 StGB), sondern Gutachter und Strafgerichte tendieren zur Verhängung von Freiheitsstrafen und ggf. zur Sicherungsverwahrung.
Die Behandlung der Störung gestaltet sich oft schwierig, weil Pädophile ihre Vorliebe für Kinder nicht unbedingt als fremd und belastend empfinden. Sie müssen auf das verzichten, was sie begehren – sexuelle Missbraucher brauchen das nicht, weil sie meist befriedigende Sexualkontakte auch zu erwachsenen Partnern eingehen können. Strukturierte Pädophile finden sexuelle Kontakte mit erwachsenen Partnern unangenehm. Sie können selten darauf ausweichen; ein Befolgen der Rechtsnorm bedeutet für sie den Verzicht auf sexuelle Kontakte überhaupt. Deshalb ist die Rückfallquote bei dieser Tätergruppe relativ hoch. Nedopil schätzt in seinem Standardwerk das Rückfallrisiko besonders bei homosexuell strukturierten Pädophilen bei über 50 % ein, während es bei innerfamiliären sexuellen Missbrauchern bei etwa 25% liegt.
Viele Fachleute plädieren für eine medikamentöse Behandlung mit Antiandrogenen bzw. mit GnRH/LHRH-Agonisten behandelt, die den Testosteronspiegel erheblich senken. Diese „chemische Kastration“ gilt einigen Fachleuten als Garant optimaler Sicherheit. Eine Therapie von Pädophilen im Sinne einer Veränderung der Orientierung ist aus heutiger Sicht schwierig. Ziele sind die Verbesserung der Selbstkontrolle, eine verbesserte Konfliktverarbeitung und Unterstützung bei befriedigenden sexuellen Kontakten zu Erwachsenen. Heute ist `state of the art´, nicht die pädosexuelle Fixierung anzugehen und aufzulösen versuchen, sondern den Umgang mit ihr zu verändern. „No cure but control“ lautet die Maxime vieler Behandlungsprogramme: Heilung ist nicht möglich, aber man kann lernen, seine Störung zu kontrollieren.
 
Literatur:
- Hoffmann R (1996) Die Lebenswelt der Pädophilen. Rahmen, Rituale und Dramaturgie der pädophilen Begegnung, Opladen
- Lautmann R (1994) Die Lust am Kinde, Portrait des Pädophilen, Hamburg
- Schiffer B (2006) Neuronale Systeme in der Steuerung von normalem und deviantem Sexualverhalten, Herbolzheim
- Schmidt G (1999) Über die Tragik pädophiler Männer, in: Z.Sexualforsch. 12. Jg., 133-139

Michael Stiels-Glenn
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