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Sozialisation
 
Der Begriff Sozialisation bezeichnet die lebenslange, prozesshafte Entwicklung des biologischen Menschen zu einer sozialen Persönlichkeit innerhalb einer Gesellschaft. Sozialisation ist der Prozess der Weitergabe des Wissens und der Fertigkeiten von einer Generation an die Nächste. In ihrem Verlauf kommt es zu einer Auseinandersetzung mit den eigenen biologischen Anlagen, der physischen und der sozialen Umwelt. Im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung besteht eine wechselseitige Beziehung zur gesellschaftlichen Entwicklung, da erst durch die Verinnerlichung (Internalisierung) von akzeptierten Verhaltensweisen, Beziehungsmustern und Normen aus dem Menschen ein soziales Subjekt wird. Gleichzeitig werden diese sozialen Tatsachen durch das Subjekt beeinflusst, da es sie abwandelt, differenziert und kommuniziert. Die Prozesshaftigkeit der Sozialisation beruht auf der Tatsache, dass ihre Bestimmungsfaktoren einem stetigen Wandel unterworfen sind. Von besonderer Bedeutung für die Sozialisation des Einzelnen sind die Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule, Peers, sowie die Gesamtheit aller Lebensumstände. Der Mensch als gesellschaftlich handlungsfähiges soziales Wesen kann daher nur unter Einbeziehung der ihn umgebenden natürlichen und sozialen Umwelt verstanden werden. Die Kontroverse um die Gewichtung sozialer und biologischer Faktoren wird in der Anlage-Umwelt-Diskussion deutlich. Die Sozialisation verweist einerseits auf die Forderung nach sozialer Integration seitens der Gruppe und den Anspruch auf die Fähigkeit des Individuums zur selbständigen Lebensführung andererseits. Sie ist daher sowohl ein Prozess der Kollektivbindung und Disziplinierung als auch der selbstbestimmten Persönlichkeitsentwicklung.
Der Sozialisationsbegriff wurde Ende des 19. Jahrhunderts in die wissenschaftliche Literatur eingeführt. Als sein Begründer gilt der Soziologe Emile Durkheim, der die soziale Integration in komplexen Strukturen untersuchte. Die von ihm begründete traditionelle Interpretation von Sozialisation als Prozess der Vereinnahmung einer triebhaften und egoistischen Persönlichkeit durch die Gesellschaft wurde insbesondere von Freud, Mead, Parsons und Piaget erweitert. Der daraus hervorgegangene Sozialisationsbegriff betont den stetigen Interaktionsprozess zwischen Individuum und Gesellschaft in einem mehrdimensionalen sozialen Gefüge. Das Sozialverhalten des Einzelnen kann nicht als ausschließliche Reflektion der sozialen Umwelt gelten, sondern ist vielmehr das Resultat einer individuellen Auseinandersetzung mit ihren Strukturen. Diese beginnt mit der Geburt als "soziales Mängelwesen" und endet mit dem Tod des Individuums.
Die Sozialisationstheorie bildet ein entscheidendes Erklärungsmuster für abweichendes Verhalten, Delinquenz und Kriminalität. Trieb- und Affekttaten können durch die Sozialisationstheorie jedoch nicht erklärt werden. Eine fehlgeleitete Sozialisation in den Sozialisationsinstanzen oder einem kriminellen Milieu sowie die fehlende soziale Kontrolle verhindern das Erlernen adäquater sozialer Rollen. Ansatzpunkt der Kriminalprävention und der Resozialisierung sind daher die Sozialisationsinstanzen und das soziale Umfeld. Eine Patentlösung wie im Verlaufe der Sozialisation kriminelles Verhalten ausgeschlossen werden kann existiert jedoch nicht. Da Kriminalität ubiquitär (gleichverteilt) in der Gesellschaft auftritt, begegnen dem Subjekt im Rahmen der Sozialisation sowohl kriminelle als auch nicht kriminelle soziale Faktoren. Diese können im Zuge ihrer Reflektion durch das Subjekt abgelehnt oder adaptiert werden. Kriminologisch bedeutsam ist vor allem die Frage, wie im Laufe des Sozialisationsprozesses ein Rechtsbewusstsein erzeugt werden kann, das es dem Menschen ermöglicht, aus eigenem Antrieb konform zu handeln. Dieses Rechtsbewusstsein ist jedoch das Resultat des sozial erwünschten Verhaltens einer bestimmten sozialen Gruppe und muss nicht der kodifizierten Rechtsordnung entsprechen. Deliktbereiche wie das so genannte Kavaliersdelikt sind daher nicht zwingend ein Anzeichen fehlgeleiteter Sozialisation.

Literatur:
Hurrelmann, K. 2006, Einführung in die Sozialisationstheorie, 9. Aufl. Beltz.
Grundmann, M. 2006, Sozialisation, Konstanz.

Schlagwörter: Persönlichkeitsentwicklung, soziale Faktoren, Milieu, Vergesellschaftung, Sozialisationsinstanzen, Kriminalprävention

Marcel Häßler
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