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Sozialverteidigung (Défense Sociale)
 
Die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Bewegung der Défense Sociale beschäftigt sich mit der durch das Nebeneinander der verschiedenen Straftheorien entstehenden Antinomie der Strafzwecke. Das Konzept der Sozialverteidigung war ursprünglich auf die radikale Lösung der Genueser Schule ausgerichtet, die auf den Rechtsanwalt Filippo Gramatica zurückzuführen ist. Beim dritten internationalen Kongreß der Gesellschaft spaltete sich dann der gemäßigte Flügel der "Défense Sociale Nouvelle" (Hauptvertreter Marc Ancel) ab. Mit der Abkehr vom Schuldstrafrecht ist nach dem Konzept der Défense Sociale die Art und Stärke der staatlichen Deliktsreaktion nicht mehr von der Schuld des Täters abhängig. Auszugehen ist vielmehr von der sozialen Gefährlichkeit des Täters, vor der die Gesellschaft und deren Mitglieder zu schützen sind. Dies folgt nach der Auffassung der Vertreter der Défense Sociale auch daraus, daß es nicht der Sinn und Zweck des Strafrechtes sein kann, einzelne Rechtsgüter zu schützen, sondern die soziale Einfügung und Anpassung des Individuums zu erreichen. Die staatliche Reaktion selbst soll - unter Vermeidung des Terminus "Strafe" - als Maßregel erfolgen, wenn der Täter zurechnungsfähig ist. Bei unzurechnungsfähigen Personen soll eine medizinische Behandlung erfolgen. Die Maßnahme selbst gliedert sich in drei Phasen auf:
(1) die Untersuchung der Persönlichkeit,
(2) die Feststellung der Antisozialität,
(3) die Anwendung präventiv erzieherischer Maßnahmen.

Durch die stark spezialpräventive Orientierung muß die Bemessung der auf die Tat folgenden Maßnahmen offen gelassen werden, da diese dem jeweiligen Bedürfnis des einzelnen Täters zur Resozialisierung und sozialen Einfügung anzupassen ist. Offen bleibt in diesem Zusammenhang auch die Frage der Willensfreiheit des einzelnen. Mit dem Argument, daß die staatliche Reaktion nur an den durch die Tathandlung erkennbar gewordenen charakterlichen Mangel anknüpfte, sind diverse Probleme verbunden. So kann ein rein sozialer Schutzzweck u. U. dem Zweck des Schutzes der Rechtsordnung nur bedingt gerecht werden. Damit wird deutlich, daß sich das Konzept der Sozialverteidigung konsequent von generalpräventiven Überlegungen abwendet und auf die spezialpräventive Wirksamkeit von Maßregeln setzt, die nach der Begehung einer Straftat verhängt und den individuellen "Bedürfnissen" des Täters angepaßt werden (*Prävention).
Das Modell der Neuen Sozialverteidigung (Défense Sociale Nouvelle) lehnt sich hingegen mehr an die Struktur des bestehenden Strafrechts an. Hier wird das Schuldprinzip, das Prinzip von Strafe und Verantwortlichkeit, wenn auch in abgewandelter Form, zugrunde gelegt. Zentraler Begriff der Neuen Sozialverteidigung ist der der Verantwortlichkeit. Differenziert wird hier zum einen nach der subjektiven Verantwortlichkeit, zum anderen nach der kollektiven Verantwortlichkeit. Erstere sei bei jedem Menschen vorhanden und soll die Unterscheidung von Gutem und Schlechtem ermöglichen. Wird der einzelne durch die Verwirklichung eines Deliktes dieser Verantwortung nicht gerecht, oder ist sich ihrer persönlich nicht bewußt, so bedarf es seiner Resozialisierung zum Individualschutz, aber auch einer Strafe oder einer Maßnahme, um die Gesellschaft zu schützen. Dabei bedeutet dies nicht eine Zuwendung zum Schuld- oder Vergeltungsstrafrecht, denn auch die Auswahl zwischen Maßnahme oder aber Freiheitsstrafe soll ausschließlich unter dem Aspekt getroffen werden, welches die im Zuge der Resozialisierung dienlichere Rechtsfolge ist.

Literatur:
- Ancel, M.: Die neue Sozialverteidigung. Stuttgart 1970.
- Baurmann, M.: Zweckrationalität und Strafrecht. Argumente für ein tatbezogenes Maßnahmenrecht. Opladen 1987.

Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991

Hans-Jürgen Kerner
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