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Verkehrskriminalität
 
Wegen ihrer spezifischen Begehensweise und ihrer Entstehungsgeschichte wird die Verkehrskriminalität (Verkehrsstraftaten und Verkehrsordnungswidrigkeiten) in zunehmendem Maße als eigene Deliktsgruppe qualifiziert. Das Straßenverkehrsrecht selbst kann daher als ein Rechtsgebiet eigener Art angesehen werden. Die Verstöße im Straßenverkehr machen heute ca. die Hälfte aller abgeurteilten Rechtsbrüche aus. Strafrechtlich verfolgt und empirisch erfaßt werden jedoch nur die bedeutenden Rechtsbrüche, wie beispielsweise die fahrlässig verursachte Körperverletzung im Straßenverkehr. Das tatsächliche Ausmaß der begangenen Delikte dürfte deutlich höher sein, da Straftaten im Verkehr, die unfallbedingt waren, aber von privater Seite nicht angezeigt wurden, in keiner Statistik registriert sind. So können auch die vom statistischen Bundesamt herausgegebene Statistik der Verkehrsunfälle und die statistischen Mitteilungen des Kraftfahrt-Bundesamtes nur Indizien für das Gesamtausmaß der Verkehrskriminalität geben. Immerhin ist zu berücksichtigen, daß die Zahl der Todesfälle bei Verkehrsunfällen höher ist als bei allen anderen Unfallursachen und es keinen anderen Lebensbereich gibt, bei dem annähernd so viele Mitmenschen durch einen anderen - auch materiellen - Schaden erleiden.
Die statistische Analyse läßt erkennen, daß ein Zusammenhang zwischen Verkehrsdichte und Verkehrsdelinquenz besteht. Mit der steigenden Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge wuchs auch die Unfallrate. Die Delikte selber lassen sich vier Untergruppen zuordnen: (1) Trunkenheit im Verkehr, (2) Fahrlässige Körperverletzung oder Tötung im Straßenverkehr, (3) Fahren ohne Fahrerlaubnis und (4) Unfallflucht.
Auffällig ist, daß die Zahl der Fälle mit Unfallflucht gegenüber den anderen Delikten überproportional gestiegen ist. Die (statistisch und kriminologisch) wichtigste Rolle spielen aber die Straßenverkehrsdelikte, die im Zusammenhang mit übermäßigem Alkoholgenuß begangen werden. Trotz verschiedenster Versuche, präventiv oder repressiv diese sogenannten Trunkenheitsfahrten zurückzudrängen, läßt sich bislang hier kein entscheidender Fortschritt erkennen.

Im Verkehrszentralregister werden jährlich rund 1,5 Millionen rechtskräftige Entscheidungen wegen einer Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr eingetragen. Dabei handelt es sich nach der Reform des Verkehrszentralregisters im Jahre 1983 nur noch um Fahrverbote nach § 25 StVG oder um Geldbußen von mindestens DM 80,-- (§ 28 StVG). Betroffen von diesen Eintragungen sind über 1,3 Mio. Personen. Durch die Reform hat sich auch der Bestand der im Verkehrszentralregister erfaßten Personen von 4,9 Mio. auf rund 4 Mio. verringert.
Geht man von rund 30 Mio. Kraftfahrzeugen und zumindest ebenso vielen Führerscheininhabern im Bundesgebiet aus, so ist jeder Sechste davon vor der Reform und zuletzt immer noch jeder Achte im Verkehrszentralregister erfaßt (gewesen). Die Durchschnittshöhe der (1984) verhängten Geldbußen betrug DM 134,--. Insgesamt werden derzeit jährlich Geldbußen in Höhe von 200 Mio. DM im Verkehrszentralregister registriert.
Die oft als "Verwaltungsunrecht" bezeichneten *Ordnungswidrigkeiten haben damit im Straßenverkehrsbereich einen Ubiquitätsgrad erreicht, der die Vermutung zuläßt, daß diese Art der Sanktionierung nicht nur selbstverständlich ist (im Sinne von wahrscheinlich, mit einer Geldbuße belegt zu werden), sondern auch bei den Betroffenen als Selbstverständlichkeit aufgefaßt wird - quasi als "Zusatzsteuer", die neben der Kraftfahrzeug- und Mineralölsteuer für eine Teilnahme am Straßenverkehr zu entrichten ist und in ihrer Höhe davon abhängt, wie risikobereit der einzelne Verkehrsteilnehmer ist. Diese Risikosteuer wird auch in der Regel ohne Protest entrichtet, sofern damit kein Fahrverbot verbunden ist. Wird ein Fahrverbot verhängt, ist dann allerdings die Bereitschaft, die Gerichte zur Überprüfung der Entscheidung der Verwaltungsbehörde einzuschalten, überaus hoch.

Nimmt man die Aburteilungen der Gerichte und die Einstellungen durch die Staatsanwaltschaft hinzu, so kommt man auf rund 30 Mio. sanktionierte Verhaltensweisen pro Jahr im Bereich des Straßenverkehrs - eine Zahl, die die statistische Normalität der Sanktionierung abweichenden Verhaltens in diesem Bereich deutlich macht. Immerhin fließen über diese Bußgelder pro Jahr mehr als eine halbe Milliarde DM in die Staatskassen, wobei der Zusammenhang zwischen Etat und Verfolgungsintensität ebenso geleugnet wird wie der zwischen dienstlicher Karriere und Anzahl der erteilten Verwarnungszettel. Allein Bayern hat beispielsweise 1986 insgesamt 127,5 Mio. DM an Buß- und Verwarnungsgeldern im Verkehrsbereich kassiert.

Strafverfahren wegen Straftaten im Straßenverkehr führen insgesamt häufiger zu einer förmlichen Verurteilung durch die Gerichte als andere Straftaten. Der immerhin bedeutsame Unterscheid von 10 Prozentpunkten (84,2 % bei Straßenverkehrsdelikten, 74,3 % bei sonstigen Delikten) ist insofern erklärungsbedürftig, als die in der Regel niedrigere Tatschwere und daher auch niedrigere Strafbedürftigkeit von Straftaten im Straßenverkehr eine eher höhere Einstellungsquote durch die Gerichte erwarten lassen würde. Als mögliche Erklärungsversuche kommen in Frage, daß auch die Gerichte (ähnlich wie die Staatsanwaltschaft) gerade bei Straßenverkehrsdelikten häufiger förmlich handeln (d. h. verurteilen), um so den Betroffenen die Bedeutung ihres Fehlverhaltens, das in der öffentlichen Meinung oftmals heruntergespielt wird, deutlich zu machen. Auf der anderen Seite könnte die Differenz auch dadurch zustande kommen, daß von der Staatsanwaltschaft unterschiedlich schwere Fälle in den beiden Bereichen zu Gericht gebracht werden, insofern als im Bereich der allgemeinen Straftaten die Staatsanwaltschaft u. U. auch leichtere Straftaten dem Gericht vorlegt, die dann durch das Gericht eingestellt werden, während sie bei Straßenverkehrsdelikten selbst eher von ihrer Einstellmöglichkeit Gebrauch macht und dem Gericht nur die schwereren Fälle vorlegt, die dann zu einer höheren Verurteiltenquote führen. Anhand der Staatsanwaltschaftsstatistik läßt sich diese Annahme nur bedingt verifizieren, da anteilmäßig mehr Verfahren im Bereich der Straßenverkehrsdelikte zu Gericht gebracht werden als im Bereich der allgemeinen Kriminalität. Ein anderer Schwerevergleich ist insofern kaum möglich, als die Tattypen ((z. B. einfacher Diebstahl als das häufigste Delikt im Bereich der allgemeinen Kriminalität, Trunkenheit im Verkehr ohne Fremdschaden (§ 316 StGB) als das häufigste durch die Gerichte sanktionierte Delikt im Bereich der Straßenverkehrskriminalität)) nicht vergleichbar sind.
Von den 1988 insgesamt wegen einer Straftat im Straßenverkehr nach allgemeinem Strafrecht abgeurteilten 272.687 Personen wurden mehr als ein Drittel (37 %) wegen sogenannter folgenloser Trunkenheitsfahrten (§ 316 StGB) abgeurteilt, 19,4 % wegen fahrlässiger Körperverletzung im Straßenverkehr (§ 230 StGB, in der Regel in Verbindung mit einem verschuldeten Unfall), 18,3 % wegen Unfallflucht (§ 142 StGB), 8,7 % wegen Führens eines Kraftfahrzeuges ohne Fahrerlaubnis oder trotz entsprechenden Verbotes (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) und 12 % wegen Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB, mit und ohne Unfall). Immerhin wurde rund ein Prozent aller Abgeurteilten wegen einer fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr (§ 222 StGB) vor Gericht gebracht (zum Vergleich: der Anteil aller Tötungsdelikte im Bereich der allgemeinen Kriminalität beträgt 0,2 %). Dennoch kann man, insgesamt gesehen, von einer generell schwereren Deliktstruktur im Bereich der Straßenverkehrsdelikte nicht ausgehen.

Die Aussetzungsquote bei den Freiheitsstrafen liegt mit 77 % bei den Verkehrsdelikten deutlich höher als bei den sonstigen Delikten (66 %). Dies gilt allerdings nur für die Freiheitssstrafen, die gegen Erwachsene oder Heranwachsende verhängt werden. Bei den Jugendstrafen, die insgesamt äußerst selten bei Straftaten im Straßenverkehr verhängt werden (lediglich 3 % der nach Jugendstrafrecht wegen eines Verkehrsdeliktes verurteilten Jugendlichen und Heranwachsenden erhalten eine Jugendstrafe, während bei den sonstigen Delikten dieser Prozentsatz bei 18,5 % liegt), ist diese Quote fast identisch mit der Aussetzungsquote bei den Nichtverkehrsdelikten (rund 65 %). Insgesamt liegt die Freiheits- und Jugendstrafenquote, das heißt der Anteil der Freiheits- und Jugendstrafen an den Verurteilungen im Straßenverkehrsbereich mit rund 10 % gegenüber 22,5 % bei den sonstigen Delikten erwartungsgemäß niedrig.
Nur etwa die Hälfte der Verkehrsdelikte ist mit einem Unfall verbunden. Die Entwicklung der Unfallzahlen, so wie sie in der Verkehrsunfallstatistik erfaßt werden, zeigt einen deutlichen Rückgang der Unfälle mit Personenschaden zwischen 1983 und 1985 von rund 374.000 auf rund 328.000 (- 12,4 %), einen erneuten Anstieg auf rund 342.000 im Jahr 1986 (+ 4,3 %) und einen erneuten Rückgang auf 325.000 im Jahr 1987 (- 4,8 %). Die Zahlen der Abgeurteilten wie auch die der Verurteilten wegen Straßenverkehrsdelikten i.V.m. Trunkenheit gingen in den letzten Jahren zurück.

Literatur:
- Häcker, H. (Hrsg.): Fortschritte der Verkehrspsychologie. Köln 1985. Janiszewski, H.: Verkehrsstrafrecht. 3. Auflage, München 1989.
- Kaiser, G.: Verkehrsdelinquenz im Kriminologischen Kontext. Schriftenreihe der Polizei-Führungsakademie 1981, 174-194.
- Middendorff, W.: Verkehrskriminalität. In: Schneider, h.J. (Hrsg.): Kriminalität und abweichendes Verhalten. Band 1, Weinheim u.a. 1983, 409-424.

Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991

Hans-Jürgen Kerner
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