Maßregelvollzug (www.krimlex.de)
Maßregeln werden im Strafvollzug (Sicherungsverwahrung) oder in einer forensisch-psychiatrischen Einrichtung vollzogen. Dieser Artikel befasst sich wesentlich mit der Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern oder sog. Entziehungsanstalten. Die im StGB verwandten Begriffe stammen aus dem Beginn des vorigen Jahrhunderts und bedürfen einer zeitgemäßeren Formulierung. Nach § 63 und nach § 64 StGB werden psychisch kranke oder suchtkranke Straftäter in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt untergebracht, wenn sie im Sinne der Paragraphen § 20 oder § 21 des StGB für schuldunfähig oder vermindert schuldfähig befunden werden.
Vom Gericht beauftragte Sachverständige überprüfen, ob ein Täter
1. an einer krankhaften seelischen Störung (damit sind vorwiegend Psychosen oder psychiatrische Erkrankungen im engeren Sinn gemeint), oder
2. an einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung (hier werden die sog. Affekttaten und Delikte im Vollrausch eingeordnet), oder
3. wegen Schwachsinn (intelligenzgeminderte Täter) oder
4. an einer schweren anderen seelischen Abartigkeit (hierbei handelt es sich um Perversionen, um Suchterkrankungen oder um schwere Persönlichkeitsstörungen) leidet.
Diese vier Eingangsmerkmale müssen zur Zeit der Begehung der Tat (und nicht früher oder später) vorgelegen haben und die Fähigkeit des Angeklagten völlig aufgehoben oder schwer beeinträchtigt haben,
a) das Unrecht seines Handeln einzusehen und /oder
b) nach dieser Einsicht zu handeln.
Das Gericht entscheidet auf Basis des Gutachtens und der Hauptverhandlung, ob der Täter schuldunfähig oder vermindert schuldfähig ist. Wenn die Gefahr besteht (und nur dann), dass von ihm infolge seines Zustandes oder der Sucht weitere erhebliche Straftaten zu erwarten sind, erfolgt die Unterbringung zur Behandlung durch Beschluss. Die Betroffenen werden anschließend in den Maßregelvollzug eingewiesen. Dabei gelten die Maßregelvollzugsgesetze der Bundesländer. Die untergebrachten Patienten leiden an schweren Persönlichkeitsstörungen, an sexuellen Abweichungen wie Pädophilie, aber auch an meist relativ gut behandelbaren psychischen Erkrankungen wie schizophrenen oder affektiven Psychosen. Eine kleinere Gruppe ist intelligenzgemindert.
Die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) ist unbefristet! Sie besteht, bis ein Sachverständiger feststellt, dass die durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit nicht weiter fortbesteht. Diese Maßregel wird in psychiatrisch-forensischen Fachkrankenhäusern, seltener an Abteilungen von psychiatrischen Kliniken vollzogen.
Die Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) bezieht sich auf suchtkranke Straftäter. Diese Maßregel ist auf zwei Jahre befristet. Entziehungsanstalten können Abteilungen an psychiatrisch-forensischen Fachkrankenhäusern sein, manchmal auch eigenständige Einrichtungen.
Für alle Untergebrachten im Maßregelvollzug (MRV) gilt der gesetzliche Auftrag der "Besserung und Sicherung". Sie werden in erster Linie als Patienten betrachtet, die Behandlung (Besserung) steht im Vordergrund. Maßregelvollzugseinrichtungen sollen behandeln und eine möglichst weitgehende psychische Stabilisierung und Rehabilitation ermöglichen. Behandlungsziel ist dabei nicht eine Heilung, sondern der Wegfall der strafrechtlichen "Gefährlichkeit". Zugleich müssen die Einrichtungen ein Höchstmaß an Sicherheit für die Bevölkerung und eine sinnvolle Therapie für die Patienten gewährleisten. Dieser Zielkonflikt ist nur lösbar durch abgestufte, ständig überprüfte Vollzugslockerungen von der Ausführung bis hin zum Freigang und Urlaub. Dabei werden Lockerungen, besonders die ersten Lockerungen auf den neuen Stufen (sog. Schwellenlockerungen) durch Konferenzen geprüft und beschlossen.
Sicherheit wird je nach Krankheitsbild und Risikoprofil (Fluchtgefahr, Gewaltbereitschaft, psychische Stabilität) einerseits durch technische Maßnahmen wie Sicherheitsschleusen, Überwachungskameras, Fenstervergitterung sowie Zäune, andererseits durch die (<- Psychotherapie mit Straffälligen) Therapie der Patienten und deren Beziehungen zu den Betreuern und Therapeuten gewährleistet. Viele Patienten leiden selbst unter ihren psychischen Störungen oder deren Folgen. Wenn sie sich im Rahmen der Therapie psychisch stabilisieren, "nachreifen" oder neue Kompetenzen erwerben und dabei wohlwollende Beziehungsangebote seitens der Behandlungsteams erleben, schützt das am ehesten vor Entweichungen und vor Rückfällen. Die Zahl der Entweichungen hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich abgenommen und insbesondere gravierende einschlägige Straftaten durch entwichene Maßregelvollzugspatienten sind statistisch selten. Dennoch gibt es in den Gemeinden, in denen Maßregelvollzugs-Einrichtungen angesiedelt sind bzw. angesiedelt werden sollen, massive Ängste und Vorbehalte der Bevölkerung (>>>Kriminalitätsfurcht).
Behandlung im MRV erfordert (menschlich und fachlich) besonders qualifizierte Therapeuten, denen es gelingt, im "Täter" auch den Menschen wahrzunehmen, auch wenn dessen Delikt furchtbar war, und die bereit sind, diesen Patienten ggf. über Jahre zu behandeln. Der derzeitige Trend zu manualisierten Therapien, in denen die Therapieschritte und das Vorgehen detailliert vorgeschrieben sind, ist umstritten. Ihre langfristige Wirksamkeit konnte noch nicht überzeugend empirisch belegt werden.
Problematisch sind die Zunahme der Einweisungen und der Rückgang von Entlassungen. Nachdem die Psychiatriereform nach 1975 und eine große Strafrechtsreform seit 1973 zu einem Rückgang der Belegungen beitrugen, kommt es seit 1990 zu einem starken Anstieg, der in vielen Einrichtungen zur Überbelegung führt. Dies betrifft auch die Unterbringung von Alkoholikern und Drogenabhängigen nach § 64 StGB. Die Unterbringung nach § 63 StGB dauert immer länger und weniger Patienten können entlassen werden. Im Durchschnitt sind Straftäter heute bereits 6 bis 8 Jahre untergebracht, was das Klima in den Einrichtungen verschärft und sekundär die Sicherheit (z. B. von Mitpatienten und Mitarbeitern) gefährdet.
Seit einem Urteil des BVerfG im Jahre 1985 gilt für den Maßregelvollzug der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Behandlung erstreckt sich über Jahre, weil die rechtlichen Anforderungen an die Entlassung hoch sind. Die Kliniken selbst, die Gutachter und StA und StVK werden immer zurückhaltender, Patienten bedingt zu entlassen.
Gutachten sind immer schwierig zu erstellen, weil sie sich auf eine Einschätzung eines Verhaltens in der Zukunft beziehen. Der Gutachter kennt aber nicht die Lebenslagen, in der ein Patient in Zukunft gerät. Dies verhindert, dass Gutachten mit ihrer Prognose besser als 70% für die Dauer eines Jahres werden können. Prognosen müssen daher sinnvollerweise in Abständen neu erstellt werden. Dabei muss beachtet werden, dass Gutachten in zwei Richtungen fehlerhaft sein können: Sie können den Patienten als gering rückfallgefährdet einstufen. Ein Rückfall wäre (bei allen schlimmen Folgen) der Beleg dafür, dass der Sachverständige sich geirrt hat. Wenn der Patient fälschlicherweise als rückfallgefährdet eingestuft wird, hat dies zur Folge, dass er nicht entlassen wird. Er kann also niemals durch sein Verhalten belegen, dass der Gutachter sich geirrt hat. Die Zahl der zu Unrecht im MRV gehaltenen wird nach unterschiedlichen Quellen zwischen 8% und 25% eingeschätzt.
Modellprojekte in Hessen, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben belegt, dass die Zahl einschlägiger Rückfälle durch eine konsequente Nachsorge deutlich gesenkt wird. Verschiedene Bundesländer haben forensische Nachsorgeambulanzen eingerichtet. So sollen Entlassungen wieder beschleunigt werden, ohne das Risiko für die Bevölkerung zu erhöhen.
Die Entlassung zur Bewährung ist erst bei eindeutig günstiger Prognosestellung durch forensische Sachverständige möglich. Zuständig sind hierfür die Strafvollstreckungskammern, die regelmäßig die Fortdauer der Maßregel überprüfen. Im Zuge der Strafrechtsreformen seit 1998 wurde die Bewährungs-Entlassung aus dem Maßregelvollzug vom Gesetzgeber unter öffentlichem Druck weiter erschwert. Mit einer bedingten Entlassung tritt in jedem Fall Führungsaufsicht (§ 68 StGB) ein.
Literatur:
- Hax-Schoppenhorst/Schmidt-Quernheim, Friedhelm (2003) Professionelle forensische Psychiatrie. Das Arbeitsbuch für Pflege- und Sozialberufe, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle
- Nedopil, Norbert (2000) Forensische Psychiatrie. Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht, Stuttgart
Michael Stiels-Glenn