Anlage-Umwelt-Problem (www.krimlex.de)
 
Hinter dem Begriff des Anlage-Umwelt-Problems verbirgt sich eine traditionsreiche Diskussion um die Frage, ob menschliche Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmale und Einstellungen genetisch bedingt sind oder maßgeblich durch die Umwelt geformt werden. Humanwissenschaftler vertreten die Ansicht, dass wichtige Persönlichkeitsmerkmale wie bspw. die Intelligenz angeboren sind und Erziehung lediglich der Entfaltung dieser Anlagen dient. Sozialwissenschaftler sehen die Eigenschaften des Menschen als Produkt der jeweiligen Umwelt wie bspw. des häuslichen Umfeldes oder des sozialen Umgangs. Anlagefaktoren bedeuten ein unveränderliches Schicksal, während Umweltfaktoren durch beeinflussende Intervention angepasst werden können. Im wissenschaftlichen Diskurs lassen sich - abhängig vom Zeitgeist und Forschungsstand - jeweils Phasen einer dominierenden Richtung identifizieren. In Abgrenzung zu den Ideologisierungen der NS-Zeit herrschen nach 1945 sozialwissenschaftliche Ansichten und damit der so genannte Erziehungsoptimismus vor. Dagegen tragen in den letzten Jahren technische Fortschritte und daraus resultierende neue Forschungsmethoden zu einem erneuten "Aufschwung" der Neurowissenschaften, aber auch zu einer differenzierten Sichtweise bei. Die brisanten Polarisierungen und Gegenüberstellungen der beiden Richtungen münden häufig in ideologisierenden, politisch und moralisch geprägten Diskussionen, die im Extremfall im Rassismus oder Sozialdarwinismus enden können.

Für die Kriminologie lässt sich die Diskussion unter dem Stichwort "der geborene Verbrecher" oder "Verbrechen als Schicksal" skizzieren. Lombrosos zwischenzeitlich häufig kritisierte anthropologische Sichtweise vom "geborenen Verbrecher", der aufgrund ererbter geistiger und körperlicher Eigenheiten kriminell ist, wird durch Interpretationen neuerer Ergebnisse der Hirnforschung belebt. Unter dem Stichwort der Willensfreiheit diskutieren Forscher die Frage der Schuld und zeichnen ein Bild des Menschen als Produkt der Feuerung seiner Neuronen und ohne bewussten Einfluss auf Handlungsabläufe. Allerdings widerlegen gerade die jüngsten Ergebnisse die alten Vorstellungen, dass Anlage und Umwelt als eigenständige Bereiche isoliert voneinander betrachtet werden. Schon der Schüler Lombrosos, Enrico Ferri, mit seiner antroprologisch-soziologischen Schule sowie Franz von Liszt, der das Verbrechen als Produkt der Eigenart des Individuums und der es umgebenden Verhältnisse betrachtet, versuchen, die isolierte Sichtweise der beiden Lager aufzuheben. Auch finden sich Mitte des letzten Jahrhunderts Ansätze, die davon ausgehen, dass das, was aus einer Anlage innerhalb eines durch sie gegebenen Spielraums wird, von der Umwelt abhängt und die Frage nach der Umweltwirkung - innerhalb des durch den äußeren Sachverhalt gegebenen Spielraums - von der Anlage abhängt. Allerdings werden diese Ideen erst durch die moderne Genetik, die Verhaltensbiologie und auch durch die Soziobiologie wissenschaftlich belegt und führen so zu einer Aufweichung der in der Vergangenheit polarisierenden Positionen.

Entscheidend für weitere Erkenntnisse ist die vollständige Aufschlüsselung der Gene im Jahre 2001. Die Vorstellung von der Allmacht der Gene, die unser Aussehen, unsere Körperfunktionen und auch unser Verhalten als Resultat unserer Gehirntätigkeit bestimmen, findet durch die Ergebnisse keine Bestätigung. Schon in den 80-er Jahren gibt es erste Ergebnisse, die die Entwicklung zahlreicher neuroanatomischer Parameter in Abhängigkeit zu der stimulierenden Umgebung der Umwelt setzen. Demnach sind Gene keine starren Gebilde, die durch Erfahrungen geformt werden. Vielmehr zeichnen sie sich durch hohe Flexibilität aus, die es dem Menschen ermöglicht, sich der jeweiligen Lebenssituation anzupassen. Die Wirkung der Umwelt auf die Tätigkeit der Erbanlagen ist Voraussetzung dafür, dass sich Lebewesen den äußeren Gegebenheiten anpassen und in ihnen überleben können. Die Gene und damit auch das Gehirn suchen sich die Erfahrungen aus, die aufgrund früherer Erfahrungen und der Erbanlagen für den Organismus den meisten Sinn ergeben und bestimmen sich damit kontinuierlich selbst: Anlagen bestimmen den Mensch dazu, sich selbst zu bestimmen. Diese Erkenntnisse stellen das Konzept fehlender Willensfreiheit - wie Roth es vertritt - mit all seinen Forderungen für das Schuldstrafrecht in Frage.

Beispiele für den Einfluss äußerer Faktoren bilden einschneidende Stress- und Angsterfahrungen. Sie zeigen nicht nur spontane Effekte im Gehirn, sondern beinhalten auch das Potential, Strukturen des Gehirns langfristig zu verändern. Traumatische Erlebnisse haben Auswirkungen auf die neurobiologischen Mikrostrukturen der Angstzentren, so dass Angstreize noch Jahre später schwere Angstattacken oder körperliche Angstreaktionen bewirken können. Neben Angst- und Stresssituationen betont die heutige Forschung die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen und ihren Einfluss auf die Biologie des Gehirns. Das Gehirn ist nachweislich auf soziale Interaktion ausgerichtet und wird zeitgleich durch sie geformt. Beziehungserfahrungen manifestieren sich auch biologisch in der Genaktivität und können sich sogar - nach neusten Erkenntnissen der Epigenetik - dauerhaft in der Erbsubstanz niederschlagen und vererben.

Zwillingsstudien, Tierstudien (v.a. Studien an Affen) und Chromosomenanalysen sowie neuere technische Forschungsmethoden werden genutzt, um das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt zu erforschen. Der im englischsprachigen Raum unter den Begriffen "nature" und "nurture" geführte Diskurs entwickelt sich weg von den traditionellen Polarisierungen hin zu einem Menschenbild, das davon ausgeht, dass Umwelt immer auf Gene wirkt und die Rolle der Gene nur erklärbar wird im Rahmen ihrer Reaktionen auf die Umwelt. Unter dem Schlagwort "use it or lose it" wird zusammenfassend ausgedrückt, dass genetisch angelegte, biologische Systeme unseres Körpers sich nur dann entwickeln können, wenn vor allem in der ersten frühkindlichen Phase entsprechende stimulierende Erfahrungen gemacht werden können. Emotionaler Zuwendung kommt dabei eine besondere Rolle zu. Ernährung zählt ebenfalls zu den Umweltfaktoren und kann bestimmte Krankheitsverläufe aber auch Verhaltensauffälligkeiten begünstigen.

Kriminologisch von Interesse ist das Wechselspiel von Anlage und Umwelt bei Straftätern. Hier geht es unter anderem um die Feststellung der Schuldfähigkeit und das Identifizieren von protektiven sowie Risikofaktoren für eine spätere kriminelle Karriere, sowie um mögliche Behandlungsansätze. Forschungsprojekte bestätigen Einflüsse beider Faktoren auf Straffälligkeit. Wissenschaftler gehen davon aus, dass Menschen mit einem genetischen Grundprogramm ausgestattet sind, das je nach Aktivierung oder Auslösung zum Tragen kommt. So konnte bspw. nachgewiesen werden, dass die Aktivierung eines bestimmten Enzyms (MAO-A) bei gewalttätigen Männern verstärkt auftritt. Das Vorhandensein und die hohe Aktivität waren jedoch nicht alleiniger Auslöser. Hinzu kommen erlebte Misshandlungen der späteren Täter in der Kindheit. Lag keine erhöhte Aktivierung des Enzyms vor, machte dies die Männer trotz erlebter Misshandlungen in der Kindheit gegen Gewalttätigkeit immun. Auch im Bereich gewalttätiger Übergriffe gilt die Formel, dass eine Kombination aus persönlicher Erfahrung und genetischer Veranlagung gewalttätiges Verhalten - und damit auch Kriminalität - begünstigt. Kriminalität wird nicht durch Vererbung oder Anlage verursacht. Bestimmte genetische Vorgaben können aber gewisse Verhaltensdispositionen oder Reaktionen begünstigen. In entsprechenden Auslösesituationen kann der Betroffene zu Kurzschlussreaktionen greifen, die einen Straftatbestand verwirklichen.

Insgesamt bleibt es große Aufgabe der Forschung, die genauen Zusammenhänge aufzuschlüsseln, um die vielen offenen Frage zu klären. Der Diskurs zeigt auch, dass scheinbar gesichertes Wissen in Folge der technischen Entwicklung wieder verworfen wurde. Die Neurobiologie bzw. Molekular- und Evolutionsbiologie in Verbindung mit den Sozialwissenschaften kann helfen, Verbrechensursachen bzw. Täterpersönlichkeiten auf den Grund zu gehen. Kriminologie kann die Erkenntnisse nutzen, um neue Theorien oder Ansatzpunkte zur Verbrechensbekämpfung zu entwickeln. Praktische Bedeutung haben die Erkenntnisse im Bereich der Einzelfallkriminologie, wenn es um die Frage der Schuldfähigkeit oder Prognose geht. Auch bei Entscheidungen zur Unterbringung im Strafvollzug oder Maßregelvollzugsanstalten ist eine praktische Relevanz der wissenschaftlichen Ergebnisse für die Kriminologie erkennbar. Bei bestimmten psychischen Erkrankungen wie bspw. der Schizophrenie müssen auch anlagebedingte Grenzen einer Veränderung durch Umweltbedingungen erkannt und ihnen entsprechend Rechnung getragen werden. Vor schnellen Pauschalisierungen oder Interpretationen von Ergebnissen ist jedoch zu warnen.

Genetik - Willensfreiheit - Erziehung - Schuld - Neurobiologie - Zwillingsstudien

Literatur:
Bauer, J. 2002: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Frankfurt am Main.
Markowitsch, H.; Siefer, W. 2007: Tatort Gehirn - Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens. Frankfurt am Main
Roth, Gerhard, 2001: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. - 6. Aufl. - Frankfurt am Main
Roth, Gerhard, 2005: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. - Neue, vollst. überarb. Ausg., 1. Aufl., [Nachdruck] - Frankfurt am Main
Spitzer, M. 2004: Selbstbestimmen - Gehirnforschung und die Frage: was sollen wir tun? München.


Katrin Grundmeier