Soziale Kontrolle (www.krimlex.de)
 
Der Begriff "Soziale Kontrolle", der von der amerikanischen Soziologie um die Jahrhundertwende entwickelt wurde und seitdem mehreren inhaltlichen Wandlungen unterworfen war, umschreibt nach heutigem Verständnis jene gesellschaftlichen Mechanismen, die zum einen der Prävention von abweichendem Verhalten (*Abweichung) dienen, zum anderen eine Reaktion auf abweichendes Verhalten bilden. Soziale Kontrolle stellt somit den Versuch dar, gesellschaftlich erwünschte Verhaltensweisen zu erreichen (*Konformität).

Zur Verwirklichung dieses Zieles werden umfängliche Anstrengungen unternommen, um mittels Sitte, Moral, Ethik, Religion etc. dem einzelnen ein Wertesystem samt Handlungsmuster zu vermitteln, das dieser so sehr verinnerlicht, daß sein Gewissen zu einer Instanz innerer sozialer Kontrolle wird. Aber auch durch äußere Anreize oder Sachzwänge, wie Belohnung, Verheimlichung von alternativen Handlungsmöglichkeiten oder tatsächliche Versperrung solcher Handlungsalternativen, kann das Verhalten in konforme Bahnen gelenkt werden (*Sozialisation).
Weniger häufig an der Zahl, jedoch konfliktgeladener als die aktiven, sind die reaktiven Maßnahmen auf abweichendes Verhalten. Sie bestehen aus negativen Sanktionen, durch die demonstriert wird, daß das abweichende Verhalten nicht folgenlos hingenommen wird; dadurch soll zugleich künftigem abweichendem Verhalten des sanktionierten Individuums (Spezialprävention) als auch der die Sanktion wahrnehmenden Dritten (*Generalprävention) vorgebeugt werden.
Die Reaktionsweisen des durch die Abweichung Geschädigten oder der Gruppe (Familie, Nachbarschaft, Freundeskreis, Schule, Betrieb, Kirche etc.) sind zumeist informeller, oft willkürlicher Art; sie reichen von der Kundgabe der Mißbilligung und Ächtung bis zu drastischeren Methoden des psychischen oder ökonomischen Zwanges.
Für bestimmte Abweichungen sind die negativen Sanktionen normativ (*Normen) detailliert festgelegt und formalisiert und werden durch spezielle, zu diesem Zweck errichtete Institutionen (wie Polizei, Jugendamt, Gerichte, Strafanstalten, ggf. Militärs) verhängt.

Die mächtigste Instanz der formellen sozialen Kontrolle ist das Recht - nicht nur, weil seine Sanktionsinhalte präzise nominiert und kodifiziert sind, sondern auch, weil ihm zur Ausübung dieser Sanktionen ein Erzwingungsstab (Kontrollorgane, Sanktionsinstanzen) zur Verfügung steht und das Recht im modernen Staat das *Gewaltmonopol für diese Sanktionsinstanzen in Anspruch nimmt. Das Vertrauen in die Einheitlichkeit und Kontinuität des Rechts sowie in die Durchsetzungskraft der Rechtsinstanzen gewährleistet eine gewisse Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des menschlichen Handelns. Durch die förmlichen Verfahrensweisen bei der Rechtsanwendung können rechtsstaatliche Garantien (z. B. Menschenrechte, Verhältnismäßigkeit der Mittel) gewahrt werden, so daß eine Eskalation, die nach traditioneller Einschätzung besonders bei privaten Konfliktregelungen droht, vermieden werden kann. Dies dient zum einen dem Schutz des Rechtsbrechers vor Willkür und Selektivität, setzt ihn aber andererseits den Gefahren aus, die von einer totalen Institutionalisierung ausgehen. Durch die Dominanz des Rechts werden auch sonstige Formen der sozialen Kontrolle (z. B. Selbsthilfe) immer mehr eingeschränkt und zurückgedrängt. Erst in jüngeren Jahren setzt eine deutlichere Gegenbewegung ein, die die möglichen positiven Seiten der privaten Konfliktregelung hervorhebt (*Opfer, *Schadenswiedergutmachung, *Täter-Opfer-Ausgleich).
Von kriminologischem Erkenntnisinteresse ist die Frage, ob zum Zweck dr Kriminalitätsvorbeugung durch eine entsprechende Gesellschaftspolitik die frühe Sozialisation des einzelnen erfolgreich beeinflußt werden kann und ob die informelle soziale Kontrolle von gesellschaftlichen Teilgruppen kriminalitätsverhindernd werden kann.
Zugleich ist es Aufgabe der Kriminologie, die Effizienz und Struktur der strafrechtlichen Sozialkontrolle samt ihrer latenten, unbeabsichtigten Nebenfolgen zu analysieren und Alternativen zu den gegenwärtigen strafrechtlichen Sanktionsformen zu erforschen. Die Überprüfung der Realisierung des Strafzweckes der Spezialprävention wird durch die schwere Meßbarkeit der Effizienz von Strafjustiz, Strafvollzug und Bewährungshilfe beeinträchtigt (*Erfolgsbeurteilung). Zudem ist das Ergebnis einer Effizienzkontrolle von zahlreichen, oft schwer auseinanderzuhaltenden Faktoren abhängig - so nicht zuletzt auch von den kontraproduktiven Folgen staatlichen Strafens, wie z. B. die Entstehung von Subkulturen im Strafvollzug, die *Stigmatisierung und der Identitätswechsel des Täters sowie die Karrierisierung der Kriminalität (sekundäre Devianz, *Kriminelle Karriere).

Die generalpräventive Wirkung der Strafnorm hängt nicht nur von ihrer abstrakten Androhung, wobei auch hier deliktsspezifische Unterschiede festzustellen sind (so wird vor allem die Abschreckung durch *Todesstrafe und lebenslange Freiheitsstrafe angezweifelt), sondern auch davon ab, ob die angedrohten Strafen auch wirklich verhängt werden. Aufgrund von Informationslücken und der verschiedenen Selektionsmechanismen wid jedoch nur ein Teil der Straftäter formellen Strafmaßnahmen unterworfen. Dadurch könnte das Vertrauen der Bevölkerung in die Sanktionsgeltung der Strafgesetze erschüttert werden, würde nicht ein Großteil der nicht sanktionierten kriminellen Handlungen dem Dunkelfeld (*Dunkelfeldforschung) angehören und sich so dem Wahrnehmungsvermögen der Normadressaten entziehen. Insofern muß der Dunkelziffer eine positive Rolle im Rahmen der *Generalprävention zuerkannt werden (Popitz spricht von der "Präventivwirkung des Nichtwissens"). Dies umso mehr, als auch die eigene Konformitätsbereitschaft der Bevölkerung sinken würde, wenn sie zur Kenntnis nehmen könnte, wie häufig die Fälle des Normbruchs in der Realität sind. Wegen der Normalität und Funktionalität der Normverletzung hat die kriminologische Sanktionsforschung auch die Kriminalisierungsprozesse samt ihrer politischen Kompetenzen einer kritischen Analyse zu unterziehen.
Da eine effektive soziale Kontrolle ein großes Sanktionspotential voraussetzt, das künftige normgerechte Verhalten des Normverletzers aber durch eine abgeschwächte Sanktion oder gar einen Sanktionsverzicht häufig besser erreicht werden kann, als durch eine scharfe Sanktion, ist das Strafrecht dem Dilemma ausgesetzt, daß im Einzelfall ein Sanktionsverzicht zwar angebracht wäre, dieser Verzicht aber die Sanktionsgeltung der Strafrechtsnorm gefährden würde. Bei der Suche nach möglichen Alternativen zu den herkömmlichen strafrechtlichen Sanktionsmaßnahmen (*Alternative Sanktionen) muß auch der Lösung dieses Spannungsverhältnisses zwischen Spezial- und Generalprävention Rechnung getragen werden.

Literatur:
- Clark, A.L.; Gibbs, J.P.: Soziale Kontrolle: Eine Neuformulierung. In: Abweichendes Verhalten I, hrsg. von Lüderssen, K.; Sack, F.. Frankfurt a.M., 1975, 153-185.
- Hess, H.: Probleme der sozialen Kontrolle. In: Festschrift für Leferenz, H., hrsg. von Kerner, H.-J.; Göppinger, H.; Streng, F.. Heidelberg 1984, 3-24.
- Popitz, H.: Die normative Konstruktion von Gesellschaft. Tübingen 1980.
- Popitz, H.: Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Tübingen 1968.
- Spittler, G.: Norm und Sanktion. Olten, Freiburg/Br. 1967. v. Trotha, T.: Recht und Kriminalität. Tübingen 1982.

Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991

Hans-Jürgen Kerner