Untersuchungshaft (www.krimlex.de)
I. Formen freiheitsentziehender Maßnahmen
Neben der Strafhaft (Freiheitsstrafe nach § 38 StGB oder Jugendstrafe nach §§ 17, 18 JGG) gibt es weitere Möglichkeiten, die Freiheit zu entziehen. Als freiheitsentziehende Maßregeln sind nach § 61 Nr. 1-3 StGB die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder in der Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff. StGB) zu nennen.
Sodann gibt es die Untersuchungshaft (U-Haft) nach §§ 112 ff. der Strafprozessordung (StPO), auf die später ausführlich eingegangen wird. Zudem ist auf die sog. Hauptverhandlungshaft gem. § 127b StPO hinzuweisen, die im Zusammenhang mit dem Beschleunigten Verfahren (§§ 417 ff. StPO) steht (allerdings keine bedeutende Rolle spielt).
Schließlich ist die vollstreckungssichernde Haft zu nennen (§§ 453c, 457 StPO). Um die Allgemeinheit zu schützen, kann die einstweilige Unterbringung angeordnet werden (§ 126a StPO). Das gilt auch für die einstweilige Unterbringung nach § 275a Abs. 5 Satz 1 und 3 StPO. Im Jugendgerichtsgesetz ermöglicht § 73 die Unterbringung zur Beurteilung des Reifestandes (§ 3 JGG) und § 72 Abs. 2 lässt die vorläufige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe zu. Die §§ 230 Abs. 2, 236, 329 Abs. 4 Satz 1, 412 StPO regeln die sog. Ungehorsamshaft (Anwesenheit des Angeklagten während der Hauptverhandlung). Gegen Zeugen kann Ordnungs- und Beugehaft verhängt werden (§§ 70 Abs. 1, 161a Abs. 2 Satz 2 bzw. 70 Abs. 2, 161a Abs. 2 Satz 2 StPO). Was die zahlreichen kurzfristigen Formen der Freiheitsentziehungen angeht, wird verwiesen auf Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, Kommentar, Band 4 (§§ 112-150), 26. Aufl., Berlin 2007, Vor § 112 Rn. 15.
II. Zweck der Untersuchungshaft
Der Zweck der Untersuchungshaft (U-Haft) ergibt sich aus dem Gesetz, genauer aus der StPO. Dort sind in den §§ 112 ff. die Voraussetzungen der U-Haft aufgeführt (genauer dazu unten III.).
§ 112 StPO lässt die Anordnung von U-Haft zu bei Flucht, Fluchtgefahr oder Verdunkelungsgefahr. Diese Haftgründe machen deutlich, was der Gesetzgeber mit der U-Haft bezweckt: nämlich die Durchführung eines Strafverfahrens zu sichern (vgl. Hilger, in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., Vor § 112 Rn. 1 m.w.N.). Ohne einen Beschuldigten (Flucht, Fluchtgefahr) oder ohne taugliche Beweise (Verdunkelungsgefahr) wäre das nicht möglich.
Nicht in dieses System passen die Haftgründe der Tatschwere und Wiederholungsgefahr (Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten) - sie sind systemfremd.
III. Voraussetzungen (§§ 112 ff. StPO)
In § 112 StPO sind die Voraussetzungen der U-Haft geregelt. Zunächst muss dringender Tatverdacht vorliegen. Das ist der Fall, wenn nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte eine Straftat begangen hat (siehe Putzke/Scheinfeld, Strafprozessrecht, Lehrbuch, Baden-Baden 2005, S. 79).
Als zweite Voraussetzung muss mindestens ein Haftgrund vorliegen. Dazu zählen:
1. Flucht (§ 112 Abs. 2 Satz 1 StPO) …
… ist gegeben, wenn der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält.
2. Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 1, 2 StPO) …
… liegt vor, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten wird. Eine hohe Straferwartung ist dafür allein allerdings kein ausreichendes Indiz (vgl. EGMR NJW 2001, 2694).
3. Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO) …
… besteht, wenn das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, dass durch bestimmte Handlungen auf sachliche oder persönliche Beweismittel eingewirkt und dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschwert werden könnte. (Alleine eine Verdunkelungsmöglichkeit begründet aber noch keine Verdunkelungsgefahr.)
4. Tatschwere (§ 112 Abs. 3 StPO) …
… ist anzunehmen, wenn der Beschuldigte dringend verdächtig ist, bestimmte Straftaten der Schwerkriminalität begangen zu haben.
5. Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) …
… ist zu bejahen, wenn die Begehung weiterer erheblicher Straftaten gleicher Art oder eine Fortsetzung der verdachtsbegründenden Straftat droht.
Bei Verdunklungsgefahr ist § 113 Abs. 1 und bei Fluchtgefahr § 113 Abs. 2 StPO zu beachten. Danach sind die Anforderungen bei leichteren Taten (wenn die Tat lediglich mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bedroht ist) strenger.
Die oben unter Nr. 4 und 5 genannten Haftgründe sind Kritik ausgesetzt, weil sie genau genommen nicht ins System passen. Denn sie dienen nicht der Verfahrenssicherung. Der Haftgrund der Tatschwere ist eine Schöpfung der Nationalsozialisten aus dem Jahr 1935. Nachdem das Vereinheitlichungsgesetz ihn 1950 wieder eliminierte, kehrte der auf die Gefährlichkeit des Beschuldigten abzielende Haftgrund (diesmal allerdings beschränkt auf einige besonders schwerwiegende Verbrechen) durch das Strafverfahrensänderungsgesetz von 1964 in die StPO zurück.
Vor allem bei dem Haftgrund der Tatschwere tritt die dritte Voraussetzung der U-Haft besonders klar zutage: die Verhältnismäßigkeit. Ausdrücklich erwähnt wird sie in § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO. In die Waagschalen zu werfen sind hier auf der einen Seite die Bedeutung der Sache und die Rechtsfolgenerwartung, auf der anderen Seite die Persönlichkeit und die privaten Verhältnisse des Beschuldigten, und vor allem der Umstand, wie schwer ihn der Eingriff belastet.
Was den Haftgrund der Tatschwere angeht, so hat das Bundesverfassungsgericht (E 19, 342 ff.) ausgeführt, dass die Anordnung von U-Haft wegen der Schwere der Tat nur dann mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar ist, wenn der Verdacht besteht, dass der Beschuldigte flüchten oder etwas verdunkeln werde, also ohne die Festnahme die alsbaldige Aufklärung gefährdet sein könnte. Im Unterschied zu den Haftgründen in § 112 Abs. 2 Nrn. 1-3 StPO braucht der Verdacht nicht mit bestimmten Tatsachen belegt zu werden. Ernstliche Befürchtungen, dass Verbrechen ähnlicher Art begangen werden könnten, sollen genügen (BVerfGE 19, 342, 350; siehe auch Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 50. Aufl., München 2007, § 112 Rn. 37).
Wenn dringender Tatverdacht sowie mindestens ein Haftgrund gegeben ist und die U-Haft nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe steht, liegen die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls vor. Seine formellen Voraussetzungen regelt § 125 Abs. 1 StPO. Ein Haftbefehl muss …
1. von der Staatsanwaltschaft beantragt (Ausnahme: Erlass von Amts wegen, wenn ein Staatsanwalt nicht erreichbar und Gefahr im Verzug ist, § 125 Abs. 1 StPO a.E.) und
2. (vor Eröffnung des Hauptverfahrens) vom Richter desjenigen Amtsgerichts erlassen werden, in dessen Bezirk ein Gerichtsstand begründet ist, oder wo sich der Beschuldigte aufhält (nach Eröffnung von dem mit der Sache befassten Gericht, § 125 Abs. 2 StPO).
Gemäß § 114 Abs. 1 StPO muss der Haftbefehl schriftlich angeordnet werden. Die inhaltlichen Anforderungen regelt § 114 Abs. 2 und 3 StPO. Der Haftbefehl ist dem Beschuldigten gemäß § 114a Abs. 1 Satz 1 StPO, soweit möglich, bekannt zu geben und ihm ist nach § 114a Abs. 2 StPO eine Abschrift auszuhändigen. Das weitere Verfahren regelt § 115 StPO: Der Verhaftete ist "unverzüglich", spätestens am Tage nach der Ergreifung (arg. § 115a Abs. 1 StPO), "dem zuständigen Richter vorzuführen". Hierbei handelt es sich um eine Umsetzung der Bestimmungen der Art. 104 Abs. 2 GG und 5 Abs. 3 Satz 1 MRK. Der Richter hat erstens nach § 114b Abs. 1 Satz 1 StPO die Benachrichtigung eines Angehörigen oder einer Vertrauensperson anzuordnen und darüber hinaus dem Verhafteten nach § 114b Abs. 2 StPO die Gelegenheit zu geben, eine Vertrauensperson zu unterrichten. Sodann sehen zweitens § 115 Abs. 2 und 3 StPO die Vernehmung und Belehrung des Beschuldigten vor und drittens muss der Richter entscheiden, ob der Haftbefehl aufrechterhalten werden kann oder nach § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO aufgehoben werden muss (evtl. ist der Haftbefehl auch auszusetzen, soweit sich Maßnahmen nach § 116 anbieten).
IV. Rechtsschutz
Zunächst ist der Beschuldigte nach § 115 Abs. 4 StPO über die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe zu belehren. Davon gibt es zwei:
1. den Antrag auf Haftprüfung gem. § 117 Abs. 1 StPO und
2. die (Haft-)Beschwerde gem. § 304 Abs. 1 StPO.
Zu erwähnen ist zudem § 120 Abs. 3 StPO: Weil die Staatsanwaltschaft Herrin des Vorverfahrens ist, führt ein entsprechender Antrag von ihr zwingend zur Aufhebung des Haftbefehls. Verfügen kann dies aber nur der Richter, vgl. § 126 Abs. 1 StPO.
Nach § 117 Abs. 2 Satz 1 StPO ist es unzulässig, Haftbeschwerde einzulegen und gleichzeitig einen Antrag auf Haftprüfung zu stellen. Die Subsidiarität der (Haft-) Beschwerde soll sogar soweit reichen, dass eine bereits eingelegte Beschwerde unzulässig wird, wenn der Verhaftete vor ihrer Erledigung die Haftprüfung beantragt.
Der Antrag auf Haftprüfung hat keinen Devolutiveffekt (keine Abwälzwirkung), d.h. über den Haftprüfungsantrag entscheidet nicht eine höhere Instanz, sondern nach § 126 Abs. 1 StPO der Haftrichter. Der Antrag kann "jederzeit" wiederholt werden, d.h. während der U-Haft beliebig oft. Dies gilt aber nicht für die erzwingbare mündliche Verhandlung beim Haftprüfungstermin (§ 118 Ab. 1 StPO: "... wird auf Antrag des Beschuldigten ..."). Ein Anspruch besteht erst dann wieder, wenn die U-Haft mindestens drei Monate gedauert hat und seit der letzten mündlichen Verhandlung mindestens zwei Monate vergangen sind. Findet die Haftprüfung also gleich zu Beginn der U-Haft statt, muss der Antragsteller sich bis zur nächsten mündlichen Haftprüfung knapp drei Monate gedulden (vgl. zur Anberaumungsfrist § 118 Abs. 5 StPO: "unverzüglich ..., ohne Zustimmung des Beschuldigten nicht über zwei Wochen nach dem Eingang des Antrags").
Die (Haft-)Beschwerde (§§ 304 ff. StPO) hat Devolutiveffekt, d.h. über sie entscheidet, soweit ihr der Haftrichter nicht abhilft (§ 306 Abs. 2 StPO), eine Strafkammer des Landgerichts als Beschwerdegericht (§ 73 GVG). Gegen deren Entscheidung ist gem. § 310 die weitere Beschwerde an das Oberlandesgericht statthaft. Auch hier gibt es - als Ausnahme zu § 309 Abs. 1 StPO - eine mündliche Verhandlung, die jedoch vom Verhafteten nicht erzwungen werden kann (§ 118 Abs. 2 StPO: " ...so kann ... nach mündlicher Verhandlung entschieden werden"). Beschwerde kann gegen denselben Haftbefehl nur einmal eingelegt werden.
Zum Rechtsschutz gegen einen Sicherungshaftbefehl (§§ 453c, 457 StPO) siehe Neuhaus/Putzke, Rechtsschutz in der Strafvollstreckung (Teil 2), in: ZAP 7/2008, S. 389402 f. (Fach 22, S. 447, 460 f.).
V. U-Haft im Jugendstrafverfahren
Das JGG enthält Modifizierungen der allgemeinen Regelungen über die Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO), und zwar in den §§ 72 und 72a JGG. Neben dem dringenden Tatverdacht (dazu gehört auch die Bejahung des § 3 JGG) muss ein Haftgrund vorliegen (vgl. §§ 112 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 sowie 112a StPO) und die U-Haft darf zur Bedeutung der Sache nicht außer Verhältnis stehen (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO).
Einschränkungen bezüglich des Haftgrundes der Fluchtgefahr enthält § 72 Abs. 2 JGG für Jugendliche, die das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Satz 1 und 2 von § 72 Abs. 1 JGG betonen besonders das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip: Erst wenn der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch andere Anordnungen (etwa § 71 JGG) oder Maßnahmen erreicht werden kann, dann darf U-Haft verhängt werden (Satz 1). Und Satz 2 ergänzt, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung "die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen" sind. Anstelle der U-Haft kann zudem nach § 72 Abs. 4 JGG die einstweilige Unterbringung nach § 71 Abs. 2 JGG angeordnet werden.
Regelungen über die Zuständigkeit finden sich in Absatz 3 und 6 von § 72 JGG. Eine Verpflichtung zur besonderen Beschleunigung enthält Absatz 5. Dem Richter obliegt nach § 72 Abs. 1 Satz 3 JGG die Darlegungslast, wenn er von den Möglichkeiten der Haftvermeidung keinen Gebrauch macht. § 72a JGG ordnet die unverzügliche Unterrichtung der Jugendgerichtshilfe an.
VI. Vollzug
Die Zuständigkeit, den Vollzug der U-Haft zu regeln, liegt seit der Förderalismusreform bei den Bundesländern (Art. 70 Abs. 1 i.V.m. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG). Nach alter Rechtslage galt bundeseinheitlich § 119 StPO, der nach Art. 125a Abs. 1 GG als Bundesrecht solange anwendbar bleibt, bis Landesrecht die Regelung ersetzt.
Bei Jugendlichen richtet sich der Vollzug der U-Haft im Wesentlichen nach den allgemeinen Vorschriften, d.h. nach § 119 StPO und (soweit die Bundesländern keine speziellen Gesetzes geschaffen haben) der weiterhin bundeseinheitlich geltenden Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO). Spezielle Regelungen für Jugendliche und Heranwachsende finden sich in § 93 JGG sowie in den Nrn. 77 bis 85 UVollzO.
Eine gesetzliche Höchstgrenze für die Dauer der U-Haft gibt es nicht (Ausnahme: Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112a; dann ist die U-Haft gem. § 122a auf ein Jahr begrenzt). Zu Recht wird generell die Höchstgrenze bei höchstens 2/3 der zu erwartenden Strafe gezogen. Dies gebietet der Grundsatz "in dubio pro reo", weil sonst die Hauptsachentscheidung vorweggenommen wird.
Von Amts wegen gibt es während des Vollzugs einige wichtige Termine zu beachten: Wenn während des Vorverfahrens weder der Beschuldigte noch die Staatsanwaltschaft nach drei Monaten die Bestellung eines Verteidigers beantragen (dieses Recht besteht nach § 117 Abs. 4 Satz 1 StPO) und der Beschuldigte bisher auch keinen Rechtsbehelf gegen die U-Haft ergriffen hat, muss die Haftprüfung von Amts wegen durchgeführt werden (§ 117 Abs. 5 StPO).
Nach Ablauf von sechs Monaten sieht § 121 StPO eine Haftprüfung durch das Oberlandesgericht vor (§§ 122 Abs. 1, 121 Abs. 4 Satz 1 StPO) bzw. durch den Bundesgerichtshof (§§ 121 Abs. 4 Satz 2, 122 Abs. 7 StPO). Geprüft wird nach § 121 Abs. 1 StPO, ob die besondere Schwierigkeit, der besondere Umfang der Ermittlungen oder "ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen". Die Frist ruht während der Hauptverhandlung (§ 121 Abs. 3 Satz 2 StPO). Die Überlastung des Gerichts ist selten ein wichtiger Grund i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO, nämlich allein dann, wenn sie unvorhersehbar und unvermeidbar war.
Soweit vom Oberlandesgericht nach sechs Monaten weder der Vollzug des Haftbefehls nach § 116 ausgesetzt noch die Fortdauer der U-Haft angeordnet wird, "ist der Haftbefehl ... aufzuheben" (§ 121 Abs. 2 StPO). Umstritten ist, ob die Fortdauer der Untersuchungshaft vom Oberlandesgericht auch dann angeordnet werden kann, wenn die Akten dort nicht rechtzeitig vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist vorgelegt werden. Die h.M. sieht in § 121 Abs. 2 StPO eine bloße Ordnungsvorschrift. Deshalb solle die verspätete Vorlage (es gibt Beispiele von einem Tag bis zu fünf Wochen) nicht automatisch zur Aufhebung des Haftbefehls führen. Das kann nicht richtig sein. Ordnungsvorschrift hin oder her - sechs Monate sind sechs Monate, weshalb der Haftbefehl aufzuheben ist, wenn die Akten beim Oberlandesgereicht nicht pünktlich vorliegen (überzeugend Neuhaus, in: Putzke u.a. (Hrsg.), Strafrecht zwischen System und Telos, Festschrift für Rolf Dietrich Herzberg, Tübingen 2008, S. 871 ff., speziell 875; ebenso Putzke/Scheinfeld, a.a.O., S. 84).
Neben § 117 Abs. 5 und § 121 StPO kennt die Strafprozessordnung noch zwei weitere Termine, zu denen über die Fortdauer der Haft entschieden werden muss: nach § 207 Abs. 4 beim Erlass des Eröffnungsbeschlusses und nach § 268b zum Zeitpunkt des Urteils.
VII. Kritik
Staatsanwälte und Richter sehen sich (vor allem von Seiten der Verteidigung) nicht selten dem Vorwurf ausgesetzt, U-Haft aus anderen als den zulässigen Gründen zu verhängen (apokryphe [=verborgene] Haftgründe, näher dazu Hilger, in: Löwe-Rosenberg, a.a.O., § 112 Rn. 54 m.w.N.), etwa um das Aussageverhalten eines Beschuldigten zu beeinflussen oder die U-Haft zur Erleichterung der Ermittlungen einzusetzen. Wer die Praxis kennt, weiß, dass solche Vorwürfe nicht von der Hand zu weisen sind (näher Hilger, in: Löwe-Rosenberg, Vor § 112 Rn. 47).
VIII. Literatur
Gatzweiler N. / Münchhalffen G. 2002: Das Recht der Untersuchungshaft, 2. Aufl., München
Schlothauer R. / Wieder H.-J. 2001: Untersuchungshaft, 3. Aufl., Heidelberg
Kruse C. 2008: Rechtsschutz im Haftverfahren aus anwaltlicher Sicht, in: Juristische Ausbildung (JA): 219-220
Holm Putzke