Verbrechensfurcht (www.krimlex.de)
 
Unter Verbrechensfurcht/Kriminalitätsfurcht versteht man die Angst davor, Opfer einer Straftat zu werden. Man müsste eigentlich besser von Verbrechensangst bzw. Kriminalitätsangst sprechen: Der Unterschied zwischen (der angemessenen und für das Überleben und Wohlergehen sinnvollen) Furcht und Angst ist, dass Furcht nachlässt, wenn man sich von der bedrohlichen Person oder Situation entfernt. Die Angst bleibt gleich stark, auch wenn der Auslöser gar nicht präsent ist. Angst verschwindet auch nicht, wenn nichts passiert. Sie bleibt und wächst oft sogar. Bei der Verbrechensfurcht, so Ostendorf (1999), haben die Deutschen einen Spitzenplatz in Europa.
 
Kriminalitätswahrnehmung ist heute weitgehend medial bestimmt (Medienwissenschaften). Skandalberichterstattung und verkürzte statistische Aussagen wie die Kriminalitäts-Uhr sorgen dafür, dass viele Menschen sich bedroht fühlen. So beträgt der Anteil der Gewaltdelikte an der gesamten gemeldeten Kriminalität nur 3%, in der Berichterstattung der Medien nimmt er allerdings 50% ein. Unterschieden muss laut dem 1. Periodischen Sicherheitsbericht zwischen der Besorgnis der Bürger über Kriminalität als soziales oder gesellschaftliches Problem und dem Gefühl, persönlich bedroht zu sein und sich deshalb nicht mehr unbesorgt bewegen zu können.
 
Alle Menschen erwarten heute, dass der Staat und seine Institutionen jedermann vor Kriminalität schützt, weshalb kriminalpolitische Versprechungen in Wahlkämpfen so erfolgreich sind. Wenn die Polizei, die Justiz und der Staat ihre Aufgaben gut erledigen würden, so der Gedanke, dann brauchte man keine Angst zu haben. Bei dem Verstehen der Ängste muss man über Gesellschaft reden.
 
Im Mittelalter war das menschliche Leben ein Dasein ohne Sicherheit, gegen das nur starke (aber auch willkürliche) himmlische oder irdische Mächte schützen konnten. Jeder wusste um diese ständige Bedrohung der eigenen Existenz, die mit dem (etymologisch älteren) Begriff der Gefahr bezeichnet wurde. Mit zunehmender Naturbeherrschung wurden Gefahren kalkulierbar. Mit der Erfindung der Eisenbahn und der Telegraphie begann man vom Risiko statt von der Gefahr zu sprechen. Im Lauf der Zeit wurde die Gefahr vergessen. Sicherheit gilt als selbstverständlich, das Risiko wird zur technisch berechenbaren Größe, zum Betriebsrisiko. Dadurch wird die reale Angst verdrängt, verleugnet oder auf seltene Großereignisse/Katastrophen verschoben: Mit dem Flugzeugunglück wird der Unfall im Straßenverkehr oder Haushalt abgewehrt, mit BSE die alltäglichere Bedrohung durch Salmonellen; 1.500 Drogentote binden die Aufmerksamkeit gegenüber mehr als 40.000 Alkoholtoten. Die seltenen sexuell motivierten Tötungsdelikte binden Ängste vor den viel häufiger vorkommenden sexuellen Übergriffen im sozialen Nahraum. Mit diesem Mechanismus der Verschiebung wird die Angst vom Nahen, Alltäglichen zum Seltenen, fernen Delikt verschoben. Kontrollverlust und Hilflosigkeit müssen nicht mehr ertragen werden. Aber die Angst wirkt im Untergrund weiter. Medien berichten global und rund um die Uhr über Verbrechen. Die Konkurrenz zwingt die Reporter, sich im Wettlauf auf die gleichen Delikte zu stürzen. Nach der Mediendynamik wird auf die Gefühle der Konsumenten gezielt. Die Zuschauer werden zu hilflosen Augenzeugen: Das Geschehen ist bereits passiert, es ist weit weg. Das erzeugt Gefühle von Angst, Kontrollverlust, Wut, Scham über die Rolle des Voyeurs). Mit der Frage nach Verantwortlichen soll aus der Position des Schocks in die öffentliche Empörung geführt werden.
 
Kriminalitätsangst und Kriminalpolitik haben wechselseitig großen Einfluss aufeinander. Die Versprechungen von Sicherheit durch Politik und Verwaltung, der Ruf der Medien nach Kontrolle vermitteln die Illusion von Sicherheit. Die Verantwortlichen wollen Handlungsfähigkeit demonstrieren und zugleich Vertrauen in das Funktionieren der staatlichen Kontrolle bestärken. Jede neue Straftat führt zum Bruch der Illusion. Wenn ein Mord (und sei es weit entfernt) geschieht, wird das Gefühl der Gefährdung im Nahbereich getriggert und Angst erzeugt. Dabei verschwimmen die Unterschiede zwischen einem Mord und einer sexuellen Belästigung. Die verdrängten Gefühle werden wieder freigesetzt - mit einer großen Enttäuschung über die nicht gehaltenen Sicherheitsversprechen und einer daraus resultierenden Wut. (Die Sprachregelungen verweisen auf diese Enttäuschung: „Schon wieder ein neues Verbrechen!“ - „Unhold schlug erneut zu!“ - „Kann man heute seine Frau/ Kinder noch unbesorgt auf die Straße lassen?“) Es entsteht bei den Bürgern Misstrauen in die Politiker und die Justiz und Distanz zum Gemeinwesen - Politikverdrossenheit.
 
Die Kriminalitätsangst hängt nicht kausal ab von gemachten Erfahrungen. Opfer von schweren Straftaten werden durch die Tat traumatisiert, ebenso wie Polizeibeamte, die im Dienst angegriffen wurden. Gleichzeitig ist die Kriminalitätsangst bei Opfern von leichteren Delikten aber geringer als bei nicht viktimisierten Personen. Vermutlich, weil man weiß, wie es sich konkret anfühlt, verschwinden viele phantasierte Befürchtungen. Dagegen ist die Verbrechensangst derer, die ein Opfer kennen, höher als im Durchschnitt. Nach Berichten über spektakuläre Delikte wachsen die Ängste in der Bevölkerung kurzfristig.
 
Kriminalitätsangst wird in Meinungsumfragen erst weit hinten geäußert (eine Umfrage der R&V-Versicherung aus dem Jahr 2000: unter 16 abgefragten Ängsten nur an zwölfter Stelle), wenn offene Fragen gestellt werden, z. B. welche Sorgen die Menschen haben. Wenn aber in Interviews gezielt die Frage nach Kriminalität auftaucht, dann wird die Kriminalitätsfurcht viel höher bewertet. Dabei haben die Befragten meist weniger Angst in ihrer gewohnten Umgebung. Die Angst ist diffus, die Bedrohung anonym.
 
Es ist zu beobachten, dass Frauen eine größere Kriminalitätsangst entwickeln als Männer und ältere Menschen als jüngere Menschen. Dies steht im Gegensatz zur tatsächlichen Kriminalitätsbelastung, weil Frauen und ältere Menschen seltener Opfer von Straßenkriminalität (Körperverletzung, Raub, usw.) werden. Ältere Menschen fühlen sich aber unbeholfen: sie sehen und hören schlechter, ihre Beweglichkeit ist herabgesetzt. Jugendliche und Heranwachsende haben dagegen nicht nur einen hohen Anteil an Tätern, sondern stellen zugleich den größten Teil der Opfer von Straftaten. Trotzdem haben nur wenige Angst. Im Gegensatz zu vielen früheren Befunden wächst derzeit auch die Kriminalitätsangst unter jüngeren Menschen an.
 
Verbrechensangst ist auch deshalb problematisch, weil sie dazu führen kann, dass Betroffene ihr Verhalten danach ausrichten und dadurch erst die Bedrohung real werden lassen. So können potenzielle Täter gerade dadurch auf potenzielle Opfer aufmerksam werden, weil die Betroffenen ihre Angst zeigen. Aus diesem Grunde rät z. B. die Transportpolizei in San Francisco Frauen, zielstrebig und selbstbewusst in der Mitte des Bahnsteigs zu gehen und entgegenkommenden Passanten offen ins Gesicht zu schauen. Verbrechensangst ist zwar ein subjektives Gefühl, mindert aber objektiv die Lebensqualität der Betroffenen, weil sie zu Schutzvorkehrungen und zur Vermeidung von Situationen führt, die gefährlich sein könnten. So kann die Angst vor der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in den Abendstunden dazu führen, dass weniger Menschen Busse und Bahnen benutzen und dadurch die Sicherheit tatsächlich sinkt.
 
Ein weiteres Problem: Aus der Angst entsteht oft eine aggressive Haltung gegenüber Strafverfolgungs- und -vollzugsbehörden: Ich muss Angst haben, weil die nicht aufpassen!! Auf solche angstbesetzten Erwartungen antworten dann Medien (mit Skandalisierung) und die Politik (mit Zero Tolerance - Wegsperren und zwar für immer).
 

 
Literatur:
• 1. Periodischer Sicherheitsbericht 2001, Abschnitt 1.5.
• Böllinger, Lorenz (1997) Forensische Psychiatrie und postmoderne Kriminalpolitik; in: WsFPP, 4. Jg. 1997, Heft 1
• Cremer-Schäfer, Helga (1992) Skandalisierungsfallen. Einige Anmerkungen dazu, welche folgen es hat, wenn wir das Vokabular „der Gewalt“ benutzen, um auf gesellschaftliche Probleme und Konflikte aufmerksam zu machen, in: Krim. Journal 24. Jahrgang 1992, Heft 1, 23 - 36
• Ostendorf, Heribert (1999) Lagebild der Kriminalität in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 248, (Überarbeitete Neuauflage) 3 - 9
• Schmidt-Semisch, Henning (2002) Kriminalität als Risiko, München
• Richter, H.E. (1992) Umgang mit Angst, Hamburg
• Weber/Narr (1997) Zur aktuellen Debatte über Strafverschärfungen für Sexualstraftäter in: BewHi 44. Jg. Heft 1

Michael Stiels-Glenn