Viktimologie (www.krimlex.de)
 
Der Begriff Viktimologie wurde aus dem lateinischen Wort victima = Opfer abgeleitet. Viktimologie ist die Lehre vom Opfer. Hauptsächlich geht es um den Prozess des Opferwerdens, das Anzeigeverhalten, das Verhältnis zwischen Täter und Opfer sowie die Stellung des Opfers im Strafverfahren. Die Viktimologie als Gebiet der Wissenschaft ist interdisziplinär und steht in engen Beziehungen u.a. zur Kriminologie, Kriminalsoziologie, Strafrechtswissenschaft und Psychologie. Innerhalb der Viktimologie wird im Schwerpunkt die Täter-Opferbeziehung spezifisch betrachtet und davon ausgehend die primäre, sekundäre und tertiäre Opferwerdung beschrieben und analysiert. Wesentliche innerhalb der Viktimologie zu klärende Fragestellungen sind neben Viktimisierungsprozessen das Anzeigenverhalten von Opfern, prophylaktische Maßnahmen zur Verhinderung einer Opferwerdung und Möglichkeiten der Berücksichtigung von Opferinteressen bei der Wiedergutmachung und Entschädigung.
Als Opfer werden eine Person, eine Gruppe oder eine Organisation betrachtet, die durch strafbare Handlungen eines oder mehrerer Täter einen wahrnehmbaren Schaden erleiden.
Sämtliche Definitionen der Viktimologie sind sich darin einig, dass es sich um eine empirische Disziplin handelt, woraus folgt, dass ihr Untersuchungsgegenstand Erfahrungen zugänglich ist. Übliche Untersuchungsmethoden sind die Analyse der offiziellen Kriminalstatistiken, Täterbefragungen, Dunkelfelduntersuchungen und Opferbefragungen. Die Methoden weisen jeweils spezifische Vorteile aber auch Nachteile auf, so dass die umfassende Erhebung der Viktimisierung mit keiner dieser Methoden vollständig möglich ist.
Innerhalb der Viktimologie wird nach primärer, sekundärer und tertiärer Viktimisierung unterschieden. Dabei handelt es sich um (nicht notwendigerweise) aufeinander folgende Stadien im Prozess der Opferwerdung. Primäre Viktimisierung ist die Opferwerdung im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Straftat; sekundäre Viktimisierung schließt deren Verschärfung durch Fehlreaktionen des sozialen Nahraums des Opfers und der Instanzen der Sozialkontrolle ein; tertiäre Viktimisierung bedeutet eine dauerhafte Übernahme der Opferrolle in die Persönlichkeit des Opfers. In jeder der Stufen der Opferwerdung können Maßnahmen getroffen werden, die den Folgen und einer weiteren Eskalation entgegenwirken. Wird Viktimisierung als eine Manifestation des sozialen Handelns betrachtet, kann sie durch verschiedene sozialwissenschaftliche Theorien beschrieben und erklärt werden. Dazu existieren verschiedene Ansätze, die sich teilweise konkurrierend gegenüber stehen und teilweise ergänzen. Die Verwendbarkeit der Ansätze richtet sich nach der jeweiligen Fragestellung, dem Delikt, dem Viktimisierungsstadium usw..
Einige Ansätze beschäftigen sich mit Opfertypologien, als einem Versuch der Ordnung und Systematisierung der Fülle des empirischen Materials. Dabei dienen sie eher einer Beschreibung, denn einer Erklärung. Exemplarisch sei auf eine Opfertypologie verwiesen, in der in "vollständig unschuldiges Opfer", "Opfer so schuldig wie Täter", "Opfer ist schuldiger als Täter" unterschieden wird. Diese drei Kategorien werden dann nach "Typ" und "Tatbeitrag" beschrieben. Weitere Ansätze gehen von einer deliktspezifischen Betrachtung aus. Mögliche Unterscheidungen sind dabei nach "Tötungs- und Körperverletzungsdelikte", "Sexualdelikte", "Eigentums- und Vermögensdelikte", "Sonstige Delikte", die wiederum in sich weiter untergliedert werden können.
Um den Prozess der Viktimisierung beschreiben und interpretieren zu können, wird auf sozialwissenschaftliche Hypothesen und Theorien zurückgegriffen. Viktimologische Erklärungsbeiträge sozialwissenschaftlicher Ansätze sind u.a. die "Theorie sozialer Ungleichheit", "Sozialer und kultureller Wandel", "Subkulturelle Differenzen", "Verhaltenstheoretische Aspekte", "Sozialpsychologische Theorien", "Definitionsansatz", "Beiträge der Psychoanalyse".
Ergebnisse der Viktimologie beschäftigen sich im Schwerpunkt mit den verschiedenen Viktimisierungen. Auf diese wird an dieser Stelle aber nicht detaillierter eingegangen (s. Viktimisierung).
Zum Praxisbezug der Viktimologie ist anzumerken, dass dieser auf zwei Richtungen abzielt. Zum einen soll unter einem präventiven bzw. prophylaktischen Aspekt Viktimisierung verhindert bzw. erschwert werden. Zum anderen soll u.a. die Situation des Opfers durch Rehabilitationsmaßnahmen, dem Schutz vor weiterer Viktimisierung etc. gestärkt werden. Zunehmend gewinnt auch die Aussöhnung von Täter und Opfer an Bedeutung, indem z.B. der Ausgleich in die Resozialisierungsmaßnahmen des Täters mit einbezogen wird. Nicht unerwähnt darf in diesem Zusammenhang aber bleiben, dass Opfer, insbesondere von schweren Delikten, diesen Initiativen eher distanziert bis hin zu ablehnend gegenüber stehen. Der Wille des Opfers sollte jedoch unbedingt respektiert werden, indem es auf keinen Fall zu einer Konfrontation mit dem Täter über das notwendige Maß innerhalb der Verhandlung hinaus gezwungen werden darf. Viktimologische Erkenntnisse lassen sich sowohl unter präventiven als auch rehabilitierenden Zielsetzungen für die gesellschaftliche Praxis nutzbar machen. Dazu gehören Aufklärung und Vorbeugung, aber auch staatliche Maßnahmen und freiwillige Initiativen sowie Bemühungen um einen Täter-Opfer-Ausgleich. So existieren in vielen Ländern mittlerweile Opferentschädigungsgesetzte (OEG - zuletzt geändert durch das Gesetz vom 19. Juni 2006 (BGBL. I S. 1305)), die unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen staatliche Leistungen für die Opfer von Straf- und Gewalttaten vorsehen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde 1976 das Opferentschädigungsgesetzt erlassen, welches zur deutlichen Verbesserung der Situation der Opfer beigetragen hat. Zu den gesetzgeberischen Maßnahmen gehören auch Bemühungen zur Vermeidung bzw. Einschränkung einer sekundären Viktimisierung des Opfers innerhalb des Strafverfahrens. Weiter sind in diesem Zusammenhang Bemühungen um die Resozialisierung von Tätern zu nennen, die nicht im Widerspruch zu Initiativen zu Gunsten der Opfer stehen. Eine erfolgreiche Resozialisierung verhindert die Opferwerdung und ist unerlässliche Voraussetzung für einen tatsächlichen Täter-Opfer-Ausgleich, der einer tertiären Viktimisierung entgegenwirkt. Neben den staatlichen Maßnahmen spielen freiwillige Initiativen der Opferhilfe eine wichtige Rolle. Ihre Vorzüge resultieren insbesondere aus praktischer, rascher und unmittelbarer Unterstützung, aus persönlichem Beistand und der Möglichkeit zur zeitnahen Korrektur von Härtefällen.

Schlüsselwörter: Anzeigenverhalten, Opferentschädigungsgesetz, Opferwerdung, Prävention, Täter-Opfer-Ausgleich

Literatur:
- Kiefl, W., S. Lamnek: "Soziologie des Opfers - Theorie, Methoden und Empirie der Viktimologie", Wilhelm Fink Verlag München, 1986
- Mitsch, W.: Rechtfertigung und Opferverhalten, Strafrecht in Forschung und Praxis, Band 37, Hamburg, 2004

Silke Ramson