Begutachtung (alle Bereiche) (www.krimlex.de)
Im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung im bzw. durch das (Straf-) Verfahren dient die Begutachtung der Wahrheitsfindung. Der deutsche Strafprozeß ist vom Prinzip der materiellen Wahrheit getragen. Tatsachen, die nicht allgemeinkundig, offenkundig oder zumindest gerichtsbekannt sind und bestritten werden, bedürfen der präzisen Ermittlung und des (ggf. förmlichen) Beweises.
Ob eine Begutachtung stattfinden soll und durch wen sie in welcher Hinsicht durchzuführen ist, bestimmt grundsätzlich das zuständige Gericht. Es gilt dann als kompetent dafür, festzustellen, ob die eigene Sachkunde zur Wahrheitsfindung ausreicht oder ob fremde Kompetenz benötigt wird und, falls ja, welche Personen diese Kompetenz besitzen. Man bezeichnet diese umfassende Befugnis zur Abgrenzung der eigenen Sachkunde und der Bestimmung fremder Sachkunde mit dem Fachausdruck der Kompetenzkompetenz. Fehler, die das Gericht dennoch begeht, können allenfalls auf dem Weg der Einlegung von Rechtsmitteln gerügt und in der Berufungsverhandlung bzw. Revisionsverhandlung durch das übergeordnete Gericht geprüft werden.
Vom Ermessen des Gerichts macht der deutsche Strafprozeß nur wenige Ausnahmen. So muß eine Begutachtung beispielsweise angeordnet werden, wenn die Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus, in eine Entziehungsanstalt oder in die Sicherungsverwahrungsanstalt in Betracht kommt (§ 246 a StPO). Die Strafvollstreckungskammer beim Landgericht muß immer dann eine Begutachtung anordnen, wenn die bedingte Entlassung eines "Lebenslänglichen" aus dem Strafvollzug in Betracht kommt (§ 454 StPO). Andere Fälle sind die körperliche Untersuchung im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren, die Leichenschau oder Leichenöffnung und die Abklärung von Geld- oder Wertzeichenfälschungen. Aber auch wenn eine Begutachtung zwingend erforderlich ist, bleibt das Gericht in der Würdigung von Inhalt und Folgerungen der Ausführungen der Sachkundigen frei. Es gibt also auch keine förmlichen Beweisregeln. Das Gericht muß in sogenannter freier Beweiswürdigung selber zu einem verbindlichen Ergebnis kommen.
Dass diese gesetzliche Konstruktion unter den Bedingungen der modernen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklungen immer häufiger in der Wirklichkeit an ihre Grenzen stößt, liegt auf der Hand. Je komplizierter die Sachverhalte sind, desto wichtiger ist demzufolge die Aufgabe der Sachkundigen, den Strafverfolgungsbehörden nicht nur fertige Ergebnisse mit vorweggenommenen Beweiswürdigungen zu liefern, sondern die Erhe-bungsmethoden und die zum Ergebnis führenden Gedankengänge und Beweisverfahren insoweit mit möglichster Annäherung an die Alltagssprache offenzulegen, als die zur Entscheidung Befugten es benötigen, um den Grundzügen und wesentlichen Details der Begutachtung inhaltlich folgen und die Schlüsse nachvollziehen zu können.
Eine Begutachtung kommt bei allen der empirischen Erforschung oder der Erfahrungsbildung zugänglichen Tatsachen in Betracht. Im Gefolge der rasanten Methodenentwicklung bei der naturwissenschaftlichen Kriminalistik hat sich für diejenigen Begutachtungen, die auf "technisch objektwissenschaftlich" angehbare Fakten zielen (z. B. Spurenauswertung, Waffenkennung), der übergreifende Fachbegriff des "Sachbeweises" eingebürgert. Die traditionell verstandene Begutachtung bezieht sich demgegenüber auf den "Personalbeweis", also die Aufhellung von Zuständen, Abläufen oder persönlichen Eigenarten des einzelnen Menschen bzw. "in" diesem Menschen, angefangen von der Alkoholbeeinflussung zur Tatzeit über Gehirnerkrankungen bis hin zu sogenannten endogenen Geistes- oder Gemütskrankheiten, wie die Schizophrenie, die die Frage nach der Schuldunfähigkeit relevant werden lassen (*Schuldfähigkeit). Bei Zeugen kommt nicht selten die Problematik der Glaubwürdigkeit in Streit (*Aussage- und Vernehmungspsychologie), bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren geht es im *Jugendstrafrecht zusätzlich um die Frage nach der Verantwortungsreife für die ihnen zur Last gelegte Tat.
Das Gutachten oder auch die Expertise wird in der Regel schriftlich fixiert, aber spätestens dann, wenn das Verfahren in eine Hauptverhandlung mündet, durch mündlichen Vortrag in die Verhandlung eingebracht. Der Gutachter wird grundsätzlich als Gehilfe des erkennenden Gerichtes im Rahmen des ihm erteilten Auftrages tätig. Das schließt nicht aus, dass entweder bereits der Ermittlungsrichter oder schon die Staatsanwaltschaft während der Ermittlungen im Vorverfahren einen Gutachter bestellt in der (nach Vorabstimmung begründeten) Annahme, das erkennende Gericht werde sich der Bestellung nach Einreichung der Anklage für das Hauptverfahren anschließen.
Der mit spezieller (und Staatsanwaltschaft oder Gericht so nicht zugänglicher) Sachkunde ausgestattete Gutachter bzw. Experte erlangt mit der Bestellung die Position eines prozessualen *Sachverständigen. Die Beiziehung von Sachverständigen hat im deutschen Strafprozeß eine alte Tradition. So kennt beispielsweise die peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 die Einschaltung von Gerichtsmedizinern bei unklaren Tötungsfällen.
Der Sachverständige stützt sich zunächst auf die ihm von der auftraggebenden Stelle vorgelegten Gegebenheiten (sogenannte Anküpfungstatsachen); danach ermittelt er mit seinen fachlichen Methoden die für die Gutachtenfrage relevanten und entscheidungserheblichen weiteren Tatsachen (sogenannte Befundtatsachen) und ermittelt mit deren Hilfe sowie aufgrund seines sonstigen fachlichen Wissens die entsprechende Lösung, beispielsweise als Arzt die sogenannte "Diagnose". Der Sachverständige kann, soweit es im Rahmen seiner Tätigkeit notwendig ist, an Vernehmungen teilnehmen und unmittelbare Fragen an Zeugen stellen. Er kann die Akten einsehen. Zur Vorbereitung des Gutachtens darf er Angeklagte befragen, testen, medizinisch untersuchen bzw. psychiatrisch explorieren. Obwohl der Sachverständige wie Zeugen ein "Beweismittel" darstellt, darf er im Gegensatz zu den Zeugen ununterbrochen an der Hauptverhandlung teilnehmen.
Das Gericht ist darin frei, ob es nur einen oder mehrere Gutachter beizieht. Wenn zwei Gutachter als Sachverständige zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, also etwa bei einer Mutter, die angeklagt ist, ihre Kinder bei einem sogenannten erweiterten Selbstmord vorsätzlich vom Leben zum Tode gebracht zu haben, eine sogenannte endogene Depression einmal bejahen, im anderen Fall ablehnen, dann ist die Beiziehung eines weiteren bzw. dritten Gutachters nicht zwingend vorgeschrieben. Statt des in der Praxis so bezeichneten Obergutachters kann das Gericht vielmehr selber entscheiden, wenn es sich die genügende Sachkunde zumißt, ob es dem einen oder anderen Sachverständigen folgt oder beide Gutachten im Ergebnis ablehnt und sich eine eigenständige Meinung bildet.
Wenn eine fachkundige Person Tatsachen oder Zustände, deren Auswertung beweisgetreu nur mit spezifischem Fachwissen gelingen kann, nur aus Anlaß eines anderen Vorgangs bzw. zufällig wahrnimmt, beispielsweise als Facharzt die Blutungen eines Unfallopfers nach einem Verkehrsunfall, dann geht es primär im Falle der gerichtlichen Beweiserhebung um ein "Zeugnis" und nicht um ein "Gutachten". Deswegen bezeichnet man eine zur Wahrheitsermittlung in diesen Fällen beigezogene Person als sachverständigen Zeugen. Als solcher sachverständige Zeuge werden auch Gutachter behandelt, die anfangs von der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren als Sachverständige bestellt wurden, dann aber im Hauptverfahren durch das Gericht nicht erneut bestellt wurden. Entsprechend behandelt werden Sachverständige, die zwar vom Richter bestellt wurden, gegen die aber ein Ablehnungsantrag erfolgreich war.
Wird nur ein einziger Sachverständiger mit einem Auftrag versehen, arbeitet dieser aber aufgrund eigenen Entschlusses mit mehrereren anderen Fachleuten in einem Team zusammen, so ist grundsätzlich nur der ursprünglich Beauftragte vom Gericht zu hören. Informationen von Dritten (z. B. psychologische Testergebnisse, die ein Psychologe für einen Psychiater erhebt) darf der Sachverständige nur insoweit in seinem eigenen Gutachten aufnehmen und vortragen, als er sie aufgrund seiner eigenen Sachkunde nochmals geprüft und verarbeitet hat sowie vertreten kann. Ansonsten muß die zuarbeitende Person selbständig zum Sachverständigen bestellt werden. Eine Ausnahme gilt für die Gutachten kollegialer Fachbehörden, öffentlicher Behörden oder auch für schriftliche Gutachten über die Auswertung eines Fahrtenschreibers, die Bestimmung der Blutgruppe oder des Blutalkoholspiegels.
Ebenso wie Zeugen haben Sachverständige einen Anspruch auf Ent-schädigung. Ersetzt werden die Kosten für die aufgewendete Arbeitszeit mit einem bestimmten standardisierten Stundensatz (etwa zwischen 40,-- und 70,-- DM) sowie sonstige Aufwendungen in unbestimmter, freilich von dem Gutachter nachzuweisender Höhe, wenn und insoweit sie für die Erstellung des Gutachtens erforderlich waren.
Über die bereits genannten Probleme der gerichtlichen Kompetenz bei immer komplexer werdenden Sachverhalten generell hinaus gibt es spezielle Probleme aus der Praxis des Sachverständigenwesens, die hier nur angesprochen werden können. Da es dem Ermessen des Richters unterliegt, aus welchem Fachgebiet der Sachverständige herangezogen wird und welcher Gutachter zur Erstellung eines bestimmten Gutachtens als fähig gilt, kann im Einzelfall schon durch die Bestellung selber das Ergebnis in den Grundzügen vorweg beeinflußt werden. Eine weitere Gefahr taucht dann auf, wenn die Ergebnisse eines Gutachtens, das im Vorverfahren erstellt wurde, nicht zur weiteren Verfahrensstrategie der Staatsanwaltschaft passen. Schließlich besteht die Gefahr, dass ein Gutachter, der auf Dauer bei Gericht tätig sein will, sich in seinen Formulierungen vorsichtiger verhält, wenn er entgegenstehende Positionen von Staatsanwaltschaft oder Gericht erkennt, als er es tun würde, wenn es ihm sowieso darauf ankäme, von den Straf-verfolgungsbehörden weiter nicht beigezogen zu werden. Die umgekehrte Gefahr, die daraus erwachsen kann, dass die Verteidigung zur Entlastung ihres Mandanten ein Gutachten anfordert, wird unter dem bezeichnenden Titel des "Privatsachverständigen" in der Praxis freilich bereitwilliger thematisiert.
Literatur:
- Jessnitzer, K.: Der gerichtliche Sachverständige. Ein Handbuch für die Praxis. 9. Auflage. Köln u.a. 1988.
- Kube, E.; Leineweber, H.: Polizeibeamte als Zeugen und Sachverständige. Wiesbaden 1976/77 (BKA-Schriftenreihe).
- Kühne, A.: Psychologie im Rechtswesen. Weinheim 1988. Kury, H. (Hrsg.): Ausgewählte Fragen und Probleme forensischer Begutachtung. Köln u.a. 1987.
Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991
Hans-Jürgen Kerner