Betriebskriminalität/Betriebsjustiz (www.krimlex.de)
 
Die Betriebsjustiz ist eine lang geübte Praxis der betriebsinternen sozialen Kontrolle, die in vielen Unternehmen üblich ist. Die strafrechtlich relevante Teilmenge der Normverstöße, mit der sich die betriebliche Justiz beschäftigt, ist die Betriebskriminalität. Die heute übliche Definition der Betriebsjustiz beschränkt sich nicht nur auf die Normverstöße, denen außerhalb des Betriebes Straftatbestände entsprechen, sondern umfasst jegliche formelle betriebliche Reaktion auf innerbetriebliche Normverstöße. Die Betriebskriminalität dagegen umfasst lediglich die Normverstöße, die sowohl außerhalb des Betriebes strafbar sind als auch von der Betriebsjustiz mit Sanktionen bedroht sind. Es gibt jedoch auch die Auffassung, dass jegliche Kriminalität im betrieblichen Umfeld der Betriebskriminalität zurechnen ist. Diese schließt ebenfalls solche Delikte ein, die nicht von der Betriebsjustiz geahndet werden, da sie von der Betriebsleitung angeordnet wurden, wie beispielsweise Umweltdelikte, um Entsorgungskosten für Betriebsabfälle zu vermeiden. Eine solche Auffassung führt jedoch zu Überschneidungen mit der Wirtschaftskriminalität/Corporate Crime, deren Gegenstand die ein Unternehmen begünstigende Delinquenz ist. Auch gibt sie den Begriffen Betriebskriminalität und Betriebsjustiz zwei völlig verschiedene Perspektiven, da sie im gewählten Beispiel der angeordneten Umweltdelikte einen Normverstoß erfasst, der von der Betriebsjustiz gar nicht geahndet wird. Die direkten Vorläufer der Betriebsjustiz sind die "Vereine gegen Fabrikdiebstahl", die zu Beginn der Industrialisierung gegründet wurden, um das Entwenden von Betriebseigentum zu unterbinden. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in den USA und 1901 in Deutschland die ersten privaten Sicherheitsdienste. Auftraggeber dieser "Wach- und Schließinstitute" waren vor allem Industriebetriebe, die jedoch später oft einen eigenen Werkschutz aufstellten. Sowohl externe wie interne Sicherheitsdienste ermöglichen es der Betriebsleitung, Normverstöße innerbetrieblich aufzudecken und zu sanktionieren.
Aufgrund der betriebsinternen Abwicklung von deviantem Verhalten und den wenigen empirischen Erhebungen in diesem Bereich gibt es keine aktuellen Zahlen über die Deliktstruktur, die den Alltag der Betriebsjustiz prägt. Nach älteren Studien werden betriebliche Sanktionen zu 85% - 90% aufgrund von Eigentumsdelikten verhängt. Die Dominanz der sanktionierten Eigentumskriminalität begründet die - allerdings nicht unwidersprochene - Annahme, dass die Betriebsjustiz eine schichtspezifische Klientel hat, die der Unterschichtskriminalität entspricht. Während die Personen, die über betriebliche Sanktionen entscheiden, kaum einer formal geregelten Betriebsjustiz unterworfen sind. Dieser Personenkreis, der aufgrund seines hohen gesellschaftlichen Status auch kaum ins Hellfeld der Kriminalstatistiken kommt, kann in der Tradition Sutherlands dem Sammelbegriff Wirtschaftskriminalität zugerechnet werden. Ebenso wie für die Wirtschaftskriminalität wird für die Betriebskriminalität von einem hohen Dunkelfeld ausgegangen, da jeweils nur eine geringe Bereitschaft der Geschädigten besteht, eine Strafanzeige zu stellen. Die durchschnittliche Anzeigequote von Delikten, die der Betriebsjustiz bekannt geworden sind, liegt je nach Erhebung lediglich zwischen 4 % bis 20 %. Ursächlich für diese geringe Quote ist mutmaßlich, dass es der Betriebsleitung aus Imagegründen widerstrebt, betriebsinterne Kriminalität öffentlich zu machen. Die betriebliche Justiz verfolgt das unternehmerische Interesse an einer sozialen Kontrolle im Betrieb und wird oft in einer Tradition der feudalen Gesindeverträge gesehen, die dem Dienstherren ein Züchtigungsrecht einräumten. Noch in der Nachkriegszeit wurde aus dieser historischen Entwicklung sogar eine gewohnheitsrechtliche Begründung der modernen Betriebsjustiz abgeleitet. Konsequenterweise unterstellte eine solche Argumentation zumindest implizit, dass ein Arbeitsverhältnis ein Statusverhältnis sei. Da jedoch das Statusrecht ein Wesensmerkmal einer ständischen Gesellschaft ist, hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, dass selbst, wenn ein Arbeitsvertrag einen statusrechtlichen Unterwerfungsakt enthalten würde, seine Legitimation immer nur im individuellen Vertragsrecht liegen kann. Das Arbeitsverhältnis ist immer ein Kontrakt- und nie ein Statusverhältnis. Die zunehmende Ablehnung einer gewohnheitsrechtlichen Begründung der Betriebsjustiz und eine andauernde Kritik an der Verfassungsmäßigkeit der betrieblichen Justiz - vor allem in den 1960er und 1970er Jahren -, führten im Jahre 1975 zum Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz. Mit ihm sollte sowohl die juristische Grundlage der Betriebsjustiz gelegt, als auch die verfassungsrechtlichen Bedenken an ihr ausgeräumt werden.
Die Hauptkritikpunkte an der Praxis der betrieblichen Justiz war die Verletzung des Rechtssprechungsmonopols des Staates und ist bis heute die fehlende Garantie eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Der von deutschen und schweizerischen Strafrechtslehrern ausgearbeitete Entwurf sollte dem abhelfen, wurde jedoch weder umgesetzt noch durch eine alternative rechtliche Normierung ersetzt. So gilt die Betriebsjustiz nach wie vor als rechtlich unzureichend geregelt, gleichwohl gelten Betriebsbußen heute prinzipiell als zulässig. Ihre Rechtmäßigkeit ergibt sich aus dem § 1 des Tarifvertragsgesetzes und aus dem § 87 I des Betriebsverfassungsgesetzes, die der Betriebsjustiz - so die herrschende Meinung - eine Rechtsgrundlage geben. Diese mehrheitlich akzeptierte Auffassung konnte jedoch verfassungsrechtliche Bedenken gegenüber der Praxis der Betriebsjustiz nicht völlig ausräumen. Zwar wird in der betrieblichen Justiz inzwischen keine Alternative zur staatlichen Strafverfolgung und daher auch keine Bedrohung des staatlichen Rechtssprechungsmonopols gesehen, jedoch sind Zweifel geblieben, ob die betrieblichen Verfahren rechtsstaatlichen Standards genügen.
Damit die von den Unternehmen verhängten Betriebsbußen einer Prüfung vor dem Arbeitsgericht standhalten, müssen sie definierten Kriterien genügen: -   Es muss eine Bußordnung durch eine Betriebsvereinbarung oder den Tarifvertrag geschaffen und den Mitarbeitern bekannt gemacht werden.
-   Die mit einer Betriebsbuße belegten Tatbestände sowie die zulässigen Bußen müssen festgelegt sein. Es ist jedoch nicht erforderlich, sie ebenso eindeutig zu definieren wie es bei juristische Normen üblich ist.
-   Einem Beschuldigten ist rechtliches Gehör zu gewähren und eine Vertretung zuzulassen.
-   Der Betriebsrat, der oft auch die Vertretung des Beschuldigten übernimmt, ist für die Verhängung einer Betriebsbuße hinzuziehen.
Die verhängten Bußen können sehr unterschiedlich sein und werden in den überwiegenden Fällen in den Personalakten notiert. Sie umfassen folgende Hauptgruppe: -   Mündliche Verwarnung,
-   schriftliche Verwarnung,
-   Geldbuße - bis zur Höhe eines Tagesverdienstes,
-   Versetzung,
-   Ausschluss von betrieblichen Sozialleistungen und -   Kündigung - inklusive der Aufforderung an den Arbeitnehmer zu kündigen.
Ein Arbeitnehmer kann vor dem Arbeitsgericht prüfen lassen, ob die formalen Voraussetzungen einer gegen ihn verhängten Betriebsbuße erfüllt sind. Das Gericht kann seine Klage abweisen oder die Buße für unwirksam erklären. Es kann jedoch keine korrigierte Buße verhängen. Betriebe, die über keinen Betriebsrat verfügen, fehlt eine der Voraussetzungen, eine Betriebsbuße verhängen zu können, die vor dem Arbeitsgericht bestand hat. Gleichwohl verzichten weder Betriebe ohne einen Betriebsrat darauf, Betriebsbußen zu verhängen, noch haben alle Betriebe Bußordnungen, die einer juristischer Prüfung standhielten. Es ist daher davon auszugehen, dass ein nicht unerheblicher Teil der von der Betriebsjustiz verhängten Betriebsbußen erfolgreich vor dem Arbeitsgericht angefochten werden könnten.
Trotz einer rechtlich fragwürdigen Praxis der Betriebsjustiz, handelt es sich um ein etabliertes Institut, das getragen wird vom gemeinsamen Interesse der beteiligten Akteure, für Normverstöße im Betrieb eine innerbetriebliche Lösung zu finden. Der Betriebsleitung ist es aus Imagegründen, besonders bei strafrechtlich relevanten Verstößen wichtig, dass sie nicht in einem öffentlichen Verfahren bekannt werden. Die Arbeitnehmer sehen in einem innerbetrieblichen Verfahren der Betriebsjustiz den Vorteil, dass ihnen ein stigmatisierendes Strafverfahren erspart wird. Jedoch haben betroffene Arbeitnehmer oft falsche Vorstellungen sowohl über die tatsächliche Strafbarkeit eines Normverstoßes als auch über das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden. Tatsächlich würden die von der Betriebsjustiz behandelten Normverstöße oftmals wegen ihres Bagatellcharakters eingestellt werden. Dem Betriebsrat, soweit er vorhanden und involviert ist, sichert die Beteiligung an der betriebseigenen Ahndung von Normverstößen einen Einfluss zu, den er andernfalls nicht hätte. Jedoch sprechen empirische Studien für die Annahme, dass der Betriebsrat seine tatsächliche Beteiligung an der Betriebsjustiz überschätzt. Versuche, mit Gesetzesnovellierungen die betrieblichen Sanktionen von Normverstößen rechtlich besser abzusichern, sind in der Vergangenheit auf Widerstand der Tarifpartner gestoßen. Die Gewerkschaften befürchten, dass der bisherige Umfang der Mitbestimmung eingeschränkt würde, während die Arbeitgeber dirigistische Eingriffe in innerbetriebliche Angelegenheiten vermeiden wollen. Auch ist der Gesetzgeber bestrebt, die außergerichtliche Streitschlichtungskultur zu fördern und sieht - wie auch Juristen - in der betrieblichen Justiz eine willkommene Entlastung der staatlichen Justiz. Dessen ungeachtet monieren Juristen, dass in der Betriebsjustiz das Opportunitätsprinzip ausschließlich von ökonomischen Kriterien bestimmt wird. Da gleichfalls unklar ist, inwieweit die betrieblichen Verfahren rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen, sehen viele Autoren einen anhaltenden rechtlichen Regelungsbedarf.
 
Fischer, Susanne. 2001. Betriebe als Opfer. Eine Analyse des Anzeigeverhaltens. Berlin: Verlag Finckenstein & Salmuth.
 
Jentsch, Christiane. 2005. Betriebsjustiz. Aachen: Shaker Verlag.
 
Kaiser, Günther, Metzger-Pregizer, Gerhard (Hrsg.). 1976. Betriebsjustiz. Untersuchungen über die soziale Kontrolle abweichenden Verhaltens in Industriebetrieben. Berlin: Duncker & Humblot.
 
Luhmann, Ulrich. 1975. Betriebsjustiz und Rechtsstaat. Heidelberg: Verlagsgesellschaft Recht und Wirtschaft mbH.
Ingo Techmeier