Alltagstheorien (www.krimlex.de)
 
Die spontane Einschätzung von anderen Personen und die Reaktion auf deren Verhalten werden im täglichen Leben häufig durch persönliche Alltagstheorien bestimmt. Umgangssprachlich werden diese Alltagstheorien mitunter auch als gesunder Menschenverstand oder als Jedermanns-Wissen bezeichnet. Die Anwendung dieser Theorien in konkreten Situationen erfolgt häufig unbewusst und unreflektiert. Wie notwendig diese routinierte Anwendung allerdings ist, um durch rasche Lageeinschätzung und Informationsverarbeitung in einer vielfältigen Lebenswirklichkeit überhaupt handlungsfähig zu sein, verdeutlichte der Soziologe Georg Simmel in seinem "Exkurs zum Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?". Eine erste Voraussetzung (Apriori) sah er darin, dass der Interaktionspartner nicht als reines Individuum wahrgenommen wird. Simmel (1908) schrieb: "Um den Menschen zu erkennen, sehen wir ihn nicht nach seiner reinen Individualität, sondern getragen, erhoben oder auch erniedrigt durch den allgemeinen Typus, unter den wir ihn rechnen." Teile der subjektiven Alltagstheorien speisen sich aus einem kollektiven Wissensbestand, in dem über Generationen hinweg Erfahrungen abgelagert werden. Diese Erfahrungen greifen unter Umständen auch auf kodifizierte oder informelle Normen wie auch auf vormals abgesichertes Wissen zurück, das allerdings üblicherweise nicht permanent überprüft wird. In modernen Gesellschaften ist von einer ständigen Modifizierung und einer Ausdifferenzierung des kollektiven Wissensbestandes in gruppenspezifische Wissensbestände auszugehen. Mit anderen Worten: Was dem einen als gesunder Menschenverstand und als selbstverständlich erscheint, kann in den Augen einer anderen gesellschaftlichen Gruppe durchaus als unvernünftig oder gar gefährlich angesehen werden. Die Mitglieder der Gruppe können sich darüber, was als normal und was als abweichend gilt, in der Regel ohne Schwierigkeiten verständigen. Die Entwicklung und Veränderung der Alltagstheorien erfolgt im Rahmen der Sozialisation. Schon im Kleinkindalter entwickeln Kinder Strategien, wie sie z.B. mit anderen Kindern umgehen, die sich nicht an die Spielregeln halten. Neue Erfahrungen, wie etwa die Reaktionen anderer Kinder oder der Eltern während oder nach einer Spielsituation, werden fortlaufend integriert. Relevant für die Modifikation des alltagspraktischen Wissensbestandes sind nach Ansicht der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1973) vor allem die in der konkreten Lebensbewältigung auftretenden Probleme. Die Interaktion mit den Mitmenschen, d.h. den Familienmitgliedern, Freunden, Berufskollegen, dem Postboten, der Supermarktkassiererin usw., wird demnach durch Alltagstheorien bestimmt; und die Alltagstheorie wird durch die Interaktion bestätigt oder gegebenenfalls modifiziert. Auch den sekundären Sozialisationsinstanzen wie z.B. Schule, Erwachsenenbildung oder die Massenmedien wird ein Einfluss auf die Entwicklung der subjektiven Alltagstheorien zugeschrieben.
 
Eine erhebliche Rolle spielen Alltagstheorien nicht nur im privaten, sondern auch im beruflichen Bereich. Insbesondere im Hinblick auf den Umgang mit abweichendem Verhalten wird das Verhalten von Lehrern, Sozialarbeitern, Straßenbahnkontrolleuren, Polizisten, Staatsanwälten oder Richtern etc. nicht ausschließlich durch ihr spezifisches Expertenwissen, sondern auch durch Alltagstheorien nachhaltig beeinflusst. Relevant werden diese Theorien beispielsweise, wenn Streifenpolizisten entscheiden müssen, welche Personen oder Fahrzeuge sie kontrollieren.
 
In der Bundesrepublik befasst sich die Kriminologie seit den 1960er Jahren intensiver mit Alltagstheorien. Insbesondere aus der Perspektive des Labeling Approach waren es zunächst vor allem die Ermessens- und Handlungsspielräume der professionell mit Kriminalität Befassten sowie deren Definitions- und Etikettierungsmacht, die es zu erforschen galt. Später richtete sich das Forschungsinteresse auch auf die informelle Sozialkontrolle. Von großem Interesse war unter anderem das Anzeigeverhalten der Bevölkerung. Ausgangspunkt war die Vermutung, dass das Anzeigeverhalten durch Alltagstheorien über Erscheinungsformen und Ursachen von Kriminalität oder Einstellungen zu Kriminellen determiniert wird. Da ein Großteil der registrierten Straftaten auf Anzeigen aus der Bevölkerung zurückgeht, haben die alltäglichen Vorstellungen der Bürger von Kriminalität und dem Kriminellen einen direkten Einfluss auf die registrierte Kriminalität.
 
Da nur ein Teil der Bevölkerung über eigene Erfahrungen mit Straftätern verfügt und eigene Normverstöße teilweise nicht als Kriminalität angesehen werden, entwickeln sich die Alltagsvorstellungen von Kriminalität vornehmlich aufgrund von Informationen, die durch Bildungsinstitutionen und die Massenmedien vermittelt werden.
 
Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben sich mit der Frage befasst, was die Allgemeinbevölkerung konkret als Kriminalität ansieht, welche Faktoren sie für die Entstehung von Kriminalität verantwortlich macht und welche Strafen sie für bestimmte Delikte als angemessen ansieht. Untersuchungen über Täterstereotypen weisen darauf hin, dass "der Kriminelle" in der alltäglichen Wahrnehmung nicht der ist, der eine fremde Sache gestohlen hat, sondern der zusätzlich etwa eine unstete Berufsausübung aufweist, ein liederliches Familienleben führt und in einer schlechten Gegend wohnt. Kriminalität ist damit vornehmlich ein Phänomen, das der Unterschicht zugeschrieben wird.
 
Eine Zusammenstellung relevanter Studien zu Ansichten über Kriminalitätsursachen und zu Sanktionswünschen findet sich bei Reichert und Bilsky (2001), die auch eine eigene standardisierte Studie mit 211 Probanden zwischen 16 und 79 Jahren zu dieser Thematik durchgeführt haben. Ihre Ergebnisse weisen darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen Ursachenzuschreibung einer Person und der von ihr geforderten Strafhärte gibt. Einen verhältnismäßig großen Einfluss weisen Reichert und Bilsky den Vorstrafen zu. Während ein arbeitsloser Täter, der nicht vorbestraft ist, deutlich nachsichtiger behandelt wird (Arbeitslosigkeit als entschuldigender Faktor), kehrt sich diese Einstellung bei vorbestraften Tätern um.
 
Resümierend lässt sich den Alltagstheorien über Kriminalität eine bedeutende Funktion hinsichtlich der Entscheidung zuweisen, ob eine konkrete, abweichende Handlung überhaupt als Verbrechen wahrgenommen sowie entsprechend angezeigt und geahndet wird. Wissenschaftliche Forschung kann Alltagstheorien, insbesondere im Bereich der Wahrnehmung und Verhaltenssteuerung, nicht ersetzen. Sie kann aber Einfluss nehmen auf den kollektiven Wissens- und Erfahrungsbestand der Gesellschaft, indem sie Alltagstheorien wissenschaftlich unterlegt und bestätigt oder im anderen Fall als Vor- oder Fehlurteil entlarvt und zu einer Überarbeitung beiträgt.
 
Literatur
 
- Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit 1. Reader. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg.
- Reichert, Anne & Bilsky, Wolfgang 2001: Kriminalität - Ursachenzuschreibung und Strafhärte: Eine Untersuchung aus der Sicht juristischer Laien. In W. Bilsky and C. Kähler (Hrsg.): Berufsfelder der Rechtspsychologie. Dokumentation der 9. Arbeitstagung der Fachgruppe Rechtspsychologie in der DGPs, 13-15 September 2001, Münster, CD-ROM.
- Simmel, Georg 1908: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Duncker & Humblot Verlag, Berlin 1908 (1. Auflage). Kapitel I, S. 21-31. http://socio.ch/sim/unt1b.htm (abgerufen am 12.06.2006).
 

Klaus Bott