Funktionen des Verbrechens (www.krimlex.de)
 
Dass das Verbrechen bzw. die Kriminalität überhaupt "Funktionen" haben solle, erscheint dem juristisch-kriminologisch bzw. auch kriminalistisch geschulten Verstand im ersten Zugang zunächst einmal erstaunlich. Dieses typische Erstaunen hängt damit zusammen, dass dem Begriff der Funktion ein Sollenselement zugeschrieben wird. So bedeutet es im typischen Verständnis, dass die Polizei dazu da ist bzw. die verpflichtende Aufgabe hat, Straftaten aufzuklären und zu verfolgen, wenn man sagt, dass ihre Funktion diejenige der Verbrechensbekämpfung sei. Kriminologisch-sozialwissenschaftlich ist der Begriff der Funktion jedoch rein analytisch-deskriptiv gedacht dergestalt, dass man, jedenfalls dem Grundsatz nach, bei entsprechender empirischer Erforschung der tatsächlichen Gegebenheiten feststellen kann, dass "Kriminalität und Verbrechen" eingebettet sind in reale Wirkungszusammenhänge, Kausalnetze oder sozial-psychologisch relevante Rückkoppelungsvorgänge, demnach erkennbar eine "Funktion haben", die keineswegs quasi naturnotwendig oder unvermeidlich gegeben bzw. auf alle Zeiten unvermeidlich sein müßte oder nicht durch andere Faktoren oder Institutionen vergleichbar erfüllt werden könnten.
Dem Alltagsverstand wie dem klassischen Fachverstand drängt sich darüber hinaus der Eindruck auf, dass Verbrechen im Einzelfall bzw. Kriminalitätsentwicklungen und -strukturen im Massenfall in der Regel nachteilige, unangenehme, schädliche oder verwerfliche Begleitumstände oder Auswirkungen haben müssen. Man spricht insofern von "Dysfunktionen". Die sozialwissenschaftlich-kriminologische Erörterung, für die es die engsten Vorbilder in den sogenannten strukturfunktionalen Theorien im Gefolge des französischen Soziologen Emile Durkheim gibt, aber auch Anklänge in den frühen Schriften von Karl Marx, verweist demgegenüber auf den Umstand, dass mit Verbrechen und Kriminalität auch oder gerade nützliche, vorteilhafte oder sogar gute Auswirkungen verbunden sein können, die man mit dem Fachbegriff der sogenannten "Eufunktionen" belegt. Betont werden zunächst beispielsweise die kollektiven Folgen nach einer schweren Straftat, die lokal, regional oder auch überregional hohe allgemeine Aufmerksamkeit erregt. Sofern solche Straftaten grundlegende Normen und Werte verletzen, gilt die Erregung darüber als geeignet, das kollektive Bewußtsein über die Gültigkeit eben dieser Normen und Werte wieder zu bestätigen und zu festigen. In der gemeinsamen Abwehr des Rechtsverletzers bietet sich darüber hinaus die Chance, den Gruppenzusammenhalt zu fördern. Schließlich vermag die mehr oder minder dramatisch inszenierte Bestrafung der Abfuhr von problematischen Energien, positiver gesagt: der Befriedigung des kollektiven Strafbedürfnisses dienen. Von daher bieten sich Übergänge zur Theorie der strafenden Gesellschaft an, die von sozialpsychologischen Varianten der Psychoanalyse bzw. Psychodynamik vorgetragen wird. Eine weitere positive Funktion von Verbrechen wird darin gesehen, dass sie geeignet sein können, die Brüchigkeit überkommener Normen und Wertvorstellungen vor aller Augen offenzulegen mit der weiteren Folge, dass sie eine Änderung des Normengefüges anregen oder, in klassischer Terminologie, eine Strafrechtsreform mitherbeiführen können. In wieder anderen Fällen können Verbrechen dazu dienen, die Gesellschaft von unerträglichen Zuständen zu befreien, was an den Fällen des Tyrannenmordes bzw. des gelungenen Hochverrates bei einem verbrecherischen Regime verdeutlicht werden kann. Mit Blick auf die "Reaktionsseite" werden schließlich diejenigen Funktionen relevant, die man mit den Begriffen der Kriminalität als Wirtschaftsfaktor bzw. Arbeitgeber umschreiben kann. Es handelt sich zunächst um die ökonomischen Zusammenhänge, die mit Verbrechensvorbeugung und mit Verbrechensbekämpfung verbunden sind, also beispielsweise um diejenigen Wirtschaftszweige, die spezielle Materialien herstellen, angefangen von besonderem Spezialpapier für Geldscheine oder Personalausweise über die Hersteller von Alarmanlagen bis hin zu den Produzenten von hochwertiger Technologie zur Spurenauswertung. Zusammen mit dem Bewachungsgewerbe, den Auskunfteien und Detekteien sowie den speziellen Anbietern von Personenschutz ergibt sich eine umfangreiche "Sicherheitsindustrie", die Milliardenumsätze tätigt und heutzutage gegenüber dem offiziellen "Apparat" der staatlichen Verbrechenskontrolle nicht unterschätzt werden darf. Aber auch Polizei, Justiz und Strafvollzug, Sozialarbeiter und Psychologen, Kriminalisten und Kriminologen sind, nur mit leichter Ironie gesprochen, mehr oder minder direkt auf das Verbrechen angewiesen, um sich in ihrer Existenz und vor allem im konkreten Ausmaß der ihnen zur Verfügung gestellten Ressourcen legitimieren zu können. Von daher ist die für den Praktiker und den traditionell denkenden Theoretiker eher ungewöhnliche Idee nicht fernliegend, dass nicht erst die naheliegende Abschaffung der Kriminalität, sondern schon ihre Verminderung als quasi Bedrohung mannigfacher eigener investierter Interessen wenn schon nicht verstanden, dann doch zumindest direkt gefühlt wird. Im theoretischen Erklärungszusammenhang kommt man von daher zu der Theorie der Organisationssoziologie, dass Institutionen in Staat und Gesellschaft, die ursprünglich zur Beseitigung eines bestimmten Problems geschaffen wurden, im Laufe ihrer Existenz nach und nach einer sogenannten Ziel-Mittel-Verschiebung dergestalt unterliegen, dass der Aufrechterhaltung des eigenen Betriebes jedenfalls im alltäglichen Handeln mehr praktische Bedeutung beigemessen wird als der energischen Durchsetzung des ursprünglichen Zieles selber. Eine drastische Kurzfassung dieser organisationssoziologischen Überlegung geht in alltäglichen Worten dahin, dass Behörden langfristig der Aufrechterhaltung eben derjenigen Probleme dienen, zu deren Beseitigung sie kurzfristig geschaffen wurden. Ein potentieller Anwendungsfall in jüngeren Jahren, anhand dessen auch noch andere Problemkreise diskutiert wurden, war der unterstellte Rückgang des Anteils von Kindern und Jugendlichen an der Bevölkerung und der in diesem Zusammenhang sich andeutende Rückgang bis "Verlust" der Kinder- und Jugendkriminalität.

Literatur:
- Schellhoss, H.: Funktionen der Kriminalität. In: Kaiser, G. u.a. (Hrsg.): Kleines Kriminologisches Wörterbuch. 2. Auflage, Heidelberg 1985, 123-127.
- Wiswede, G.: Soziologie abweichenden Verhaltens. 2. Auflage, Stuttgart u.a. 1979.

Entnommen mit freundlicher Genehmigung des Kriminalistik-Verlages Heidelberg aus der gedruckten Version des Kriminologie-Lexikons, Stand der Bearbeitung: 1991

Hans-Jürgen Kerner