Haftgründe (www.krimlex.de)
 
Gegen einen Beschuldigten darf Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. Ausgeschlossen sind jedoch Fälle, in denen die Untersuchungshaft zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Sanktion außer Verhältnis steht (§ 112 Abs. 1 StPO). Gesetzliche Haftgründe sind neben Flucht auch Fluchtgefahr, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr. Diese Vielfalt von Haftgründen gibt der Untersuchungshaft ganz unterschiedliche Zweckrichtungen: Während sie bei Flucht und Fluchtgefahr verhindern soll, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren entzieht, soll sie im Falle der Verdunkelungsgefahr vor einer Verschlechterung der Beweislage schützen. Demgegenüber dient sie beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) einem präventiven Ziel (der Verhinderung weiterer Straftaten). Ein Haftbefehl kann mehrere Haftgründe zugleich benennen.

In der Praxis wird die Untersuchungshaft in über 90 % der Fälle auf die Haftgründe Flucht bzw. Fluchtgefahr gestützt (vgl. Strafverfolgungsstatistik 2006). Fluchtgefahr besteht, wenn konkrete Anhaltspunkte die Annahme nahelegen, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren entziehen werde. Hier spielen Gesichtspunkte wie fehlende örtliche und soziale Bindungen, aber auch die Höhe der zu erwartenden Strafe eine wichtige Rolle. Bei Jugendlichen gelten insoweit bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres strengere Maßstäbe (vgl. § 71 Abs. 2 JGG). Insbesondere durch Leistung einer "angemessenen Sicherheit" (Kaution, § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 StPO) kann die Außervollzugsetzung eines auf Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls erreicht werden. Das gilt auch für den Fall der "Hauptverhandlungshaft" nach § 127b StPO, die in geeigneten Fällen eine Aburteilung im beschleunigten Verfahren ermöglichen soll und auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, dass der Betreffende der gerichtlichen Hauptverhandlung fernbleiben wird.

Verdunkelungsgefahr, 2006 in 6 % aller Fälle als Haftgrund angeführt, besteht, wenn der Beschuldigte erkennbar durch aktive Handlungen Beweismittel beeinträchtigen will (z. B. durch Beeinflussung von Zeugen oder Beiseiteschaffen von Beweismitteln) und die Ermittlung der Wahrheit dadurch gefährdet wird.

Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) hat noch geringere praktische Bedeutung (2006: 1 % der Fälle). Er betrifft neben bestimmten Sexualdelikten verschiedene Serienstraftaten (z. B. Körperverletzungen, Brandstiftung, Handel mit Betäubungsmitteln, aber auch Vermögensdelikte). Von dem auf diesen Haftgrund gestützten Haftbefehl zu unterscheiden ist der sog. "Sicherungshaftbefehl" zur einstweiligen Unterbringung mutmaßlich schuldunfähiger bzw. nur vermindert schuldfähiger Täter im Interesse der öffentlichen Sicherheit (§ 126a StPO).

Nach dem Gesetzeswortlaut kein eigenständiger Haftgrund, jedoch meist als solcher bezeichnet und deshalb auch in der Strafverfolgungsstatistik gesondert ausgewiesen (2006: 5 % der Fälle) ist der Gesichtspunkt der Schwere des Tatvorwurfs (§ 112 Abs. 3 StGB). Er wird im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 19, 342, 350) als bloße Beweiserleichterung insbesondere bei Kapitalverbrechen verstanden: Ist der Beschuldigte dringend verdächtig, eines der in § 112 Abs. 3 StPO genannten Delikte begangen zu haben, sinken die Anforderungen an die Begründung von Flucht- oder Verdunkelungsgefahr erheblich herab. Dagegen würde eine ausschließlich auf die Schwere des Vorwurfs und das damit verbundene öffentliche Aufsehen gestützte Untersuchungshaft letztlich an den im Dritten Reich eingeführten Haftgrund der "Erregung der Bevölkerung" anknüpfen und wäre weder mit dem Grundgesetz noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar.

Ob die Untersuchungshaft wirklich stets, wie in § 112 Abs. 1 StPO vorausgesetzt, im Hinblick auf die "Bedeutung der Sache" und die zu erwartende Sanktion verhältnismäßig ist, erscheint zweifelhaft. Immerhin wurden im Jahr 2006 nur 53,5 % der Fälle mit Untersuchungshaft mit der Verhängung einer unbedingten Freiheits- oder Jugendstrafe abgeschlossen (bei Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz waren es sogar nur 17 %). Dies lässt vermuten, dass die Untersuchungshaft in der Praxis über ihre gesetzliche Zweckbestimmung hinaus noch andere Funktionen erfüllt; man spricht deshalb auch von "apokryphen" (verdeckten) Haftgründen. So kann Untersuchungshaft unter Umständen auch dazu dienen, den Beschuldigten zum Geständnis oder sonst zur Kooperation zu zwingen (unzulässige Beugehaft), ausländerrechtliche Maßnahmen (Abschiebung) vorzubereiten oder auch das Bestreben, den Beschuldigten zur Leistung einer Sicherheit zu veranlassen, die dann später für Rückgewinnungshilfe (§§ 111b ff. StPO) zur Verfügung steht. Im Jugendstrafrecht kann dadurch im Ergebnis auch die vom JGG gerade nicht zugelassene Verknüpfung einer Bewährungsstrafe mit einem "Denkzettelarrest" erreicht werden.

Literatur:
- Heinz, Wolfgang 2008: Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 - 2006 (Stand: Berichtsjahr 2006) Version: 1/2008, http://www.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks06.htm
- Münchhalffen, G., Gatzweiler, N. 2002: Das Recht der Untersuchungshaft, München.
- Schloth, S. 1999: Die Haftgründe der Wiederholungsgefahr und der Schwere der Tat, Baden-Baden.
- Weider, H.-J. 1995: Die Anordnung der Untersuchungshaft - Leichtfertige Annahme von Fluchtgefahr und apokryphe Haftgründe, in: Strafverteidiger Forum, Nr. 1: 11-19.

Schlüsselbegriffe:

Fluchtgefahr
Verdunkelungsgefahr
Schwere der Tat / Tatschwere
Wiederholungsgefahr

Andreas Popp